Es war ein kleines deja vu, als in dem Interview mit Papst Franziskus für die Civiltà Cattolica zwei Jesuiten erwähnt wurden. Zum einen ist da Pierre Favre, auf deutsch Peter Faber, einer der Gründergeneration des Ordens, der „stille Gefährte“, wie er genannt wird, weil wir so wenig über ihn schreiben oder wissen. Er hat ein Memoriale geschrieben, ein Erinnerungsbuch, das voller geistlicher Einsichten ist. Dazu an dieser Stelle bestimmt einmal mehr.
Ediert und mit Einleitung versehen hat dieses Memoriale vor 50 Jahren ein französischer Mitbruder, der zweite der Erwähnten: Michel de Certeau SJ. „Denker“ wäre glaube ich die Berufsbezeichnung, die wir im deutschen benutzen würden. Er war Dozent und Herausgeber, lebenslanger Beobachter und präziser Beschreiber, er arbeitet mit Jacques Lacan zusammen und ist ein Name in der – vor allem angelsächsischen – postmodernen Szene. Im deutschsprachigen Raum ist er leider noch wenig bekannt, obwohl sich das langsam ändert.
De Certeau hat mich seit meinem Theologiestudium gepackt und ich war hoch erfreut, diesen Namen zu lesen. Glücklicherweise hatte ich im Studium einen Mitbruder, der sich schon länger mit ihm beschäftigt hatte. Seitdem lese ich ihn immer wieder mit Gewinn, auch wenn das nicht ganz einfach ist. Wer sich einen Certeau-Text vornimmt – zum Glück sind viele bereits übersetzt – der kann schon ins Verzweifeln geraten, der Abstraktionsgrad ist hoch.
Ich bin kein akademischer Philosoph oder Theologe, trotzdem mag ich es an dieser Stelle versuchen, einige Gedanken von Certeau zu skizzieren. Und mehr als Skizzen werden das wirklich nicht werden.
Die Vergangenheit, das Andere und wir
Vielleicht am bekanntesten ist seine Schrift über das Schreiben der Geschichte. Alterität – das Andere – ist ein Grundbegriff bei de Certeau. Die Geschichte, das Vergangene, steht uns als etwas uns Fremdes gegenüber, wird aber erst durch das Schreiben überhaupt erst organisiert und fassbar gemacht. Vergangenheit „gibt“ es nicht einfach, sie wird erst durch das Schreiben, durch die Worte, geschaffen. Dadurch aber besteht die Gefahr, dass die Andersheit verloren geht, weil wir beim Schreiben unsere eigenen Interessen als ordnende Faktoren einbringen. De Certeau nennt das die „Kolonisierung der Vergangenheit“. So bleibt uns Geschichte immer verborgen, gleichzeitig muss sie immer neu geschrieben werden.
Das kann de Certeau dann auch auf das Christentum und seinen Kern, Jesus Christus, übertragen. Wir müssen Christus treu bleiben, gleichzeitig bleibt er uns aber immer fremd, ein Anderer, der sich unserer ordnenden Sprache entzieht. Als Anfang und Grund des Glaubens kann man Christus heute nur in den Wirkungen erkennen, die er auf die Gemeinschaft der Christen hat, etwa in den niedergeschriebenen Worten, den Evangelien und Briefen. Er ist uns als der Unbekannte bekannt, in der postmodernen Sprache ausgedrückt.
„Ein Ereignis kann, insofern es Gründung ist, nicht objektiv gewusst werden“, schreibt de Certeau in einem Artikel (Angaben weiter unten). „Der historische Charakter des Ereignisses zeigt sich nicht darin, dass es dank einem intakt gehaltenen Wissen außerhalb der Zeit konserviert wird, sondern im Gegenteil in seiner Eingliederung in die Zeit der verschiedenen Findungen-Erfindungen, denen es ‚Platz macht’.“ Soll heißen, dass das gründende Ereignis – Jesus Christus – sich fortsetzt in der Geschichte, aber immer „different“, anders als das Ereignis selber. Und das nennt de Certeau dann „kreative Hervorbringung des Glaubens in neuen Situationen“.
Diese Hervorbringung wiederum ist ein Akt des Vertrauens, denn wir können dessen, wodurch der Glaube begründet wird, nicht sicher sein. Wir können über Jesus Christus nicht verfügen. Deswegen bleibt Glauben ein „fragiles Abenteuer“. Und weil wir nicht verfügen können, können wir auch nicht einfach das Ereignis Christus wiederholen: Es „existiert“ nur in Praktiken, soll heißen, den Glauben gibt es nur in Akten des Glaubens, im Tun. Und die sind notwendigerweise plural, voneinander verschieden. Das glaubende Tun sei nicht die „Anwendung einer Lehre“. De Certeau spricht davon, dass wir kein „Idol“ hätten, an dem sich unser Handeln im Glauben ausrichten und das es vereinheitlichen könnte. Ein Beispiel ist für ihn die Verschiedenheit der Evangelien: Keiner der Texte kann auf den anderen reduziert werden, die Zeugnisse sind verschieden.
In aller Kürze und Dichte einige der Gedanken, die de Certeau über das Christentum anstellt. Abschließend aus einer Predigt, die er vor Jesuiten gehalten hat.
„Aufbrechen bedeutet (…) sich auf den Weg zu machen, einen Schritt vorwärts zu tun, sich nicht auf die Hilfe von abgesicherten Wörtern zu verlassen, sondern sie mit einer Praxis zu konfrontieren … . Doch das ist nur gemeinsam, in einer gemeinschaftlichen Praxis möglich.“ Und etwas weiter „Die Gemeinschaft ist letztlich die Norm all der Gesten, die religiöse Wahrheit lässt sich nicht kapitalisieren. Man kann sie nur mit den anderen teilen.“
Die Zitate habe ich alle dem Artikel „Der gründende Bruch“ entnommen, wie er in dem Buch „GlaubensSchwachheit“ ediert ist. Erschienen ist er im Original 1971 in der Zeitschrift l’Esprit.
Mehr Material findet man auch auf einer Internetseite.
Biografische Notiz:
Michel de Certeau (*1925 in Chambéry, Frankreich) trat 1950 in den Jesuitenorden ein. Davor hatte er Soziologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie studiert, 1960 – nach seiner Priesterweihe – wurde er an der Sorbonne zum Doktor der Theologie promoviert, und zwar mit einer Arbeit über Pierre Favre (dt.: Peter Faber), einen Jesuiten der Gründergeneration, dem auch Papst Franziskus sehr verbunden ist. Er arbeitete in mehreren Zeitschriften mit, wurde Mitgründer einer Vereinigung von Psychoanalytikern, und arbeitete zu Mystik, Philosophie und Psychoanalyse. Bekannt wurde er besonders in der Kulturtheorie, wo seine Schriften in den USA zur Standardliteratur gehören, auch wenn sie bei uns fast völlig unbekannt sind. Er lehrte unter anderem in Paris, Genf und in San Diego. De Certeau starb 1986 in Paris.
Michel de Certeau SJ bin ich das erstmals in seinem Aufsatz „Foucoults Lachen“ begegnet. Meine zweite Begegnung mit Michel de Certeau SJ fand in dem Buch „Der mystische Spiegel“ statt. Ohne es nun zur Gänze Beurteilen zu können glaube ich, dass dieses Buch ein wichtiger Schlüssel zu seinem Denken ist. Für ihn ist denken „ein beständiges Weitergehen, das auf der Suche nach dem Anderen ist“. Er ist mit dieser Grundhaltung in verschiedenen Wissensbereichen „unterwegs“. Er hat auf seiner Reise die verschiedensten Wissensbereiche durchquert, ohne sich letztlich einem disziplinären Ort zugehörig zu fühlen. Falls er sich irgendwo befindet, so an jenen Grenzen, an denen sich die von ihm umschriebenen Praktiken einiger Figuren des Übergangs treffen: Mystiker, Historiker und Psychoanalytiker. Besonders in der Psychoanalyse um Francois Lacan, in enger Verbindung mit dem anderen „Michel“ Foucoult und der French Theory hatte ich ihn engerweise angesiedelt. In dieser kleinen Beschreibung seines Wirkens begegne ich ihm also erneut, diesmal als Theologe. Zeit also sich näher mit diesem Aspekt seines Schaffens zu beschäftigen.
Oh, Oh chrisma Francoise heißt natürlich Jacques. Als guter Psychoanalytiker, der er war würde er dies natürlich zu deuten wissen…ja, ja das Symbolische und die Sprache