Braucht man den Glauben oder nicht? Gibt es irgend etwas, was es ohne den Glauben nicht gäbe? Ein heißer Kandidat für eine Antwort darauf wäre die Sittlichkeit: Es braucht einen den Menschen und ihren Setzungen entzogenen Anker, um Moral begründen zu können. Gebe es keine Letztbegründung, dann fiele auch die Moral.
Aber woher kommt das dann? Dazu hat in den vergangenen Monaten und Jahren Hans Joas viel publiziert, meine Kollegin Anne Preckel hat sich mit ihm darüber unterhalten:
Herr Professor Joas, sie sprechen in Ihrem neuen Buch „Glaube als Option“ vom „Tod“ zweier „Pseudo-Gewissheiten“ in unserer Zeit: der Annahme, dass Säkularisierung automatisch zu Moralverfall führt und ein Feind der Religion ist, und andererseits der Annahme, dass es zur Moral unbedingt die Religion braucht. Bitte erklären Sie uns das näher.
„Die Säkularisten und Religionskritiker neigen, man könnte sagen seit dem 18. Jahrhundert dazu, anzunehmen, dass Modernisierung notwendig zur Säkularisierung führt. Säkularisierung im Sinne einer abnehmenden Bedeutung, einer Schwächung, eines Verfalls von Religion. Sie sehen ihren Unglauben damit eben nicht nur als ihre persönliche Überzeugung oder ihren Mangel an Überzeugungen, sondern als die Speerspitze eines historischen Fortschrittes, sie sehen alle Gläubigen damit als rückständig an und den Glauben in all seinen Manifestationen als eine Art Relikt einer Vergangenheit, die überwunden werden muss, auch demnächst überwunden sein wird, aber eben noch nicht überall überwunden ist. Diese Annahme kann man, glaube ich, als Sozialwissenschaftler heute eindeutig als verfehlt darlegen.“
Und was halten Sie diesen Säkularisten und Religionskritikern entgegen?
„Es ist nicht so, dass die geschichtlichen Prozesse, auch gerade die unter dem Titel ,Modernisierung‘ gemeinten, notwendig zu einer Schwächung von Religion führen, diese Annahme ist von bestimmten Prozessen der europäischen Geschichte, vor allem der französischen Geschichte im 19. Jahrhundert, abgelesen. Schon bisher war immer klar, dass sie etwa für die Geschichte der USA keine hohe Plausibilität hat, aber das wurde immer als ,Sonderfall USA‘ gegenüber einer europäischen Regel behandelt. Erst in den letzten Jahrzehnten, in denen sich nun eine Modernisierung – also im ökonomisch, technisch, wissenschaftlichen Sinn – vieler Gesellschaften außerhalb Europas und Nordamerikas abgespielt hat, kann man nun deutlich sehen, dass sich die europäische Säkularisierung dort im Regelfall nicht wiederholt, ja dass es sogar rapide Modernisierungsprozesse gibt, etwa in Südkorea, die mit einer massiven Vitalisierung von Religion verbunden sind, geradezu auch mit Prozessen der Christianisierung! Ich behaupte also: die ungläubigen Säkularisten müssen sich von diese Pseudogewissheit verabschieden!“
Soviel zur ersten „Pseudo-Gewissheit“. Was ist mit der zweiten?
„Umgekehrt haben die Gläubigen im 19. und 20. Jahrhundert oft dazu geneigt zu sagen, dass ohne den Glauben gesellschaftlicher Zusammenbruch wahrscheinlich wird, dass ohne Glauben Menschen nicht wirklich altruistisch, moralisch handeln könnten und dass deshalb Prozesse der Säkularisierung zum Moralverfall führen. Sie haben angenommen, dass der Mensch irgendwie anthropologisch gewissermaßen auf Religion hin angelegt sei und dass dort, wo also der Glaube zum Beispiel durch staatliche Unterdrückung, aber auch durch konsumistische Oberflächlichkeit an Kraft verliert, und deshalb solche sehr bedenklichen moralischen, sozialmoralischen Konsequenzen eintreten. Auch hier sage ich nun als Sozialwissenschaftler: Wir können eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten im großen Stil empirisch untersuchen, ob in säkularistischen Gesellschaften oder in stark säkularisierten Gesellschaften ein solcher Moralverfall eintritt. In postkommunistischen, aber auch in westlichen Gesellschaften, zum Beispiel in Skandinavien – natürlich muss man hier sehr detaillierter die einzelnen Länder beschreiben. Aber pauschal kann man behaupten, so glaube ich: Nein, dieser Verfall tritt so nicht ein. Es gibt andere Quellen der Moral als die Religion.“
Benedikt XVI. dürfte da etwas anderer Überzeugung sein; er knüpft die Vernünftigkeit einer Gesellschaft fest an das Christentum, eine Gesellschaft ohne christliche Grundlegung läuft für ihn moralisch ins Nichts.
„Die Vielfalt der Quellen von Moral anerkennen“
Herr Professor Joas, wenn Religion also kein „Muss“ für Moral ist, was sind dann andere Quellen der Moral?
„Natürlich ist für Gläubige Religion auch eine Quelle ihrer moralischen Überzeugung, inhaltlich, und ihrer moralischen Motivation. Aber Menschen, die keine Religion haben, haben deshalb nicht etwa schon keine festen Wertüberzeugungen. Manche Atheisten beispielsweise sind in einer hoch moralischen Weise atheistisch. Also schon im 19. Jahrhundert war deutlich zu beobachten – etwa in Deutschland mit Gottfried Keller oder Theodor Storm oder auch mit Ludwig Feuerbach, um solche ganz berühmten Gestalten zu nennen, dass die gerade auch aus moralischen Gründen gegen Religion argumentiert haben. Ich glaube fälschlich, aber eben weil zum Beispiel angenommen wurde, dass ein moralisches Handeln, das auf einer Jenseitshoffnung basiert, moralisch weniger wertvoll sei als ein moralisches Handeln, das wirklich das Gute um des Guten willen tut. Es gibt eine Fülle solcher moralischen Einwände, aus denen eine starke Wertüberzeugung entstanden ist – nicht religiöser Art, aber zutiefst moralisch!“
Welche Rolle spielt die geschichtliche Erfahrung bei der Bildung moralischer Überzeugungen?
„Für das 20. Jahrhundert verwende ich manchmal das Beispiel, dass das Erschrecken über die Entrechtung und Entwürdigung von Menschen, etwa in den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus für viele Menschen ein starkes Motiv sein kann zu einer moralischen Orientierung: Sie sind zutiefst überzeugt, dass das nicht wieder geschehen darf, was dort geschehen ist. Diese Überzeugung aber ist als solche natürlich keine religiöse Überzeugung, es ist nur eine intensiv moralische Überzeugung.“
Eine weitere mögliche Quelle für Moral?
„Etwa die Orientierung an der Reziprozität, nicht einem anderen das zuzufügen, von dem ich nicht will, dass es mir zugefügt wird, wie nennen das ,Die goldene Regel‘, das ist bekanntlich eine in allen Kulturen auftretende moralische Orientierung. Die gibt es zwar auch biblisch, aber die ist nicht nur aus diesen biblischen Kontext bezogen denkbar, und sie überlebt zum Beispiel auch Säkularisierungsprozesse. Also ich glaube, wir müssen empirisch die Vielfalt der Quellen von Moral anerkennen und daraus erklären, warum auch säkularisierte Gesellschaften ihre moralische Grundlage nicht einfach verlieren.“
Reziprozität also nicht als etwas Nachgestelltes, das nach Moral und Gewissen kommt?
„Das glaube ich tatsächlich nicht, ich würde es eigentlich umgekehrt konzipieren. Ich glaube, dass Erfahrungen der Reziprozität – und dafür spricht eine Fülle von Befunden der empirischen Entwicklungspsychologie bezogen auf Kinder und Jugendliche – ohne jeden weiteren Deutungshorizont gemacht werden können. Weithin bekannt sind die Untersuchungen von Jean Pierre Piaget am kindlichen Spiel: Kinder können, ohne Einfluss von Erwachsenen, Lehrern, Eltern zum Beispiel herausfinden im kindlichen Spiel, im Spiel mit anderen, dass wenn sie sich an bestimmte elementare Regeln der Fairness nicht halten, das Spiel zusammenbricht. Kinder verwenden ja bestimmte moralische Kategorien wie zum Beispiel: das ist gemein von dir, dass du das jetzt tust, und hindern einander daran, zum Beispiel von den Spielregeln abzuweichen oder sich im Spiel immer eine bestimmte, mit Vorteilen verbundene, einseitige Position zu sichern. Eine solche Position muss kreisen, beim nächsten Spiel muss ein anderer den Anstoß machen usw. – je nachdem, welches Spiel das ist. Das ist nicht abgeleitet aus Wertüberzeugungen, sondern das entsteht aus der Praxis des Zusammenhandelns selber.“
Das betrifft ja nun den engen Kreis des Lernens aus unmittelbarer Erfahrung… Wo verorten Sie denn vor diesem Hintergund die Weltreligionen und ihre Errungenschaften?
„Ich glaube offen gestanden, dass das Christentum oder andere Weltreligionen in dieser Hinsicht erst in das Spiel kommen, wo es um die Anwendung eines solchen Reziprozitätsverständnisses über kleine Kreise hinaus geht. Alle Menschen sind zu moralischem Handeln fähig, aber alle Menschen neigen auch dazu, dieses moralische Handeln auf Kreise ihnen wohlbekannter Mitmenschen, etwa in der Familie, einzuschränken, also etwa einen solchen Begriff wie den der Menschheit nicht zu konzipieren, also sich nicht vorzustellen, dass ich, wenn ich gut handeln will, nicht nur an das Wohl mir emotional nahestehender Menschen denken darf, sondern an das aller Menschen. Und sogar nicht nur der heute lebenden Menschen, sondern auch der künftigen Generationen. Für eine solche anspruchsvolle Moral bedarf es sicher mehr als nur dieser unmittelbaren Reziprozitätserfahrungen, und dafür gehören, nun sag ich vorsichtig, auch nicht nur das Christentum, aber die Weltreligionen sicher zu den wesentlichen Quellen.“
Neuevangelisierung: „Niedrigschwellige Angebote schaffen“
Wichtiges Stichwort der katholischen Kirche heute ist das der „Neuevangelisieung“: In wenigen Monaten beginnt das vom Papst ausgerufene „Jahr des Glaubens“, immer wieder hat Benedikt XVI. die Notwendigkeit betont, den christlichen Glauben in Ländern mit christlichen Wurzeln wieder „aufzufrischen“. Was könnte Ihrer Meinung nach beitragen zur Revitalisierung des Christentums in Europa?
„Grundsätzlich setze ich auf die verschiedenen Ebenen des Gespräches, die hier notwendig sind. Ich glaube und versuche mit meinen eigenen Arbeiten dazu beizutragen, dass es eine völlig neue Form des Gespräches zwischen Gläubigen und Ungläubigen geben muss, dass eine Reevangelisierung natürlich wesentlich auch daran hängt, Menschen, die einen tradierten Zugang zum Glauben komplett verloren haben, wie zum Beispiel in großen Teilen Ostdeutschlands oder Tschechiens, in einer völlig neuen Weise auf den Sinn des Evangeliums hinzuführen. Die tradierte christliche Sprache ist dort oft ein Grund, um sich gewissermaßen schon bei den ersten Möglichkeiten des Zuhörens abzuwenden.“
Abwendung vom Glauben also ein Problem der Kommunikation und des Zugangs, weniger des Inhalts. Wie kann vor dem Hintergrund eine Rückführung zum Glauben gelingen? Haben Sie positive Beispiele im Kopf?
„Einer der Erfurter Theologieprofessoren, mit dem ich auch etwas befreundet bin und der in einem Dorfe in Thüringen lebt, hat mir ein Beispiel gegeben: Er erzählte, im Regelfall gibt es rein säkulare Bestattungen, er habe es sich aber zum Prinzip gemacht, all diese Bestattungen zu besuchen und gewissermaßen als ,Mitbewohner‘ dort anwesend zu sein. Das führe sehr häufig dazu, dass trauernde Angehörige in den nächsten Tagen bei ihm zu Hause vorbeischauen und sich bedanken für seine Anwesenheit. Aus diesen eigentlich nur als kurze ,Stippvisite‘ gedachten Besuchen entwickeln sich oft stundenlange Gespräche über Trauer, über den Tod, über das, was wohl nach dem Tod kommt usw. Ich will damit sagen: Er leistet Seelsorge im allerbesten Sinn gegenüber Menschen, die nicht nur nicht Mitglied einer Kirche sind, sondern denen überhaupt jeder Zugang zu dem, was unter Kirche und Glauben läuft, abhandengekommen ist und vielleicht sogar schon über mehrere Generationen. So hat das Bistum dort, nachdem es mitbekommen hat, dass viele Nicht-Kirchenmitglieder und Ungläubige am Heiligen Abend ein Bedürfnis haben, irgendwie teilzuhaben an der christlichen Weihnachtsfeier, es eingeführt, dass neben der Christmette im Dom in der unmittelbar daneben befindlichen Kirche Sankt Severi eine Art Heiliger Abend für Ungläubige veranstaltet wird mit Lesungen bei Kerzenlicht, mit Weihnachtsliedern usw., um extrem niedrigschwellig Angebote für Ungläubige zu schaffen.“
„Christentum globaler denken“
Worüber würden Sie mit dem Papst einmal gerne diskutieren?
„Da gäbe es tatsächlich den einen oder anderen Punkt – bei aller Bewunderung seiner intellektuellen Schriften und für sein Wirken in vieler Hinsicht. Der Punkt, der mich am meisten interessieren würde, ist der: Ích habe immer wieder den Eindruck, dass Papst Benedikt dazu neigt, die europäische Geschichte etwas zu idealisieren, etwa das europäische Mittelalter darzustellen als eine Zeit der gelungenen harmonischen Synthese von christlichem Glauben und griechischer Vernunft. Aus dieser Perspektive stellen sich dann spätere Phasen der europäischen Geschichte – schon eigentlich das späte Mittelalter, die Reformation, leider auch das 18. Jahrhundert – als Abstieg von dieser einmal gelungenen Synthese dar. Nun sind das alles ganz schwierige historische Fragen, über die man sich unterhalten könnte. Ich würde das aus folgendem Grund gerne tun und für besonders wichtig halten: Ich glaube, dass wir gegenwärtig in einer Zeit der Globalisierung des Christentums leben, in der es das Christentum in Europa vor allem in bestimmten Ländern schwer hat, auch in Deutschland, dass aber gleichzeitig das Christentum gegenwärtig quantitativ gesehen eine der größten Expansionsphasen in seiner Geschichte überhaupt durchmacht, und zwar außerhalb Europas. Und ich denke, dass aus diesem Grund eine Idealisierung Europas eigentlich etwas sperrig ist, was die Aufgaben betrifft, die sich aus der Globalisierung des Christentums ergeben!“
Inwiefern „sperrig“?
„Man könnte ja geradezu umgekehrt sagen: Wenn das Christentum etwa in Ostasien expandieren soll, und das soll es ja wohl, dann können wir den Asiaten nicht zumuten, das ganze Paket europäischer Kulturtradition und philosophischer Tradition mit der Botschaft des Evangeliums zusammen zu übernehmen. Dann müssen wir im Gegenteil zusammen neu nachdenken, was das Christentum vielleicht bisher an Partikularitäten Europas mitgeschleppt hat, von denen es sich etwas distanzieren muss. Und da sehe ich in bestimmten Reden und Veröffentlichungen des Papstes einen geradezu – wie soll ich sagen – strategisch-problematischen Zug, über den ich gerne mit ihm diskutieren würde!“
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Joas, und alles Gute für Ihre Lehre in Regensburg.
Immer und überall wird verglichen. Wir sind besser, höher, weiter als die anderen. Warum? Die Christen sind vielfach aufgrund von unedlen Motiven nicht besser als andere.Oder man fühlt sich nur wohl, wenn alle dasselbe denken. Die Zeit, die verplempert wird mit diesen Dingen, geht woanders verloren.Gibt es am Ende des Lebens oder später eine Belohung, weil man den richtigen Weg gegangen ist?Ich lass mich überraschen.