Wenn Historiker in 100 oder 200 Jahren zurück blicken werden auf uns, woran werden sie uns messen? Denn messen werden sie uns, genau so wie wir die Vergangenheit messen. Sie werden uns messen an der Art und Weise, wie wir jetzt und heute mit den Flüchtlingen umgehen. Je länger ich die Tragödien hier in Italien und seit kurzem – und es ist verglichen mit Italien wirklich erst kurz – auch nördlich der Alpen beobachte, desto ratloser werde ich einerseits, desto sicherer wird aber auch mein Urteil, dass es genau dies ist, was in der Zukunft an unserer Zeit wichtig ist.
Man kann über Glauben reden und Kirche, über Ökumene und die Synode, über Sexualmoral und all die Themen, die uns immer schon beschäftigen und auch beschäftigen sollen. Wenn es eine wirklich ernste Debatte wird, dann geht es aber nicht darum, sondern um die Flüchtlinge.
So lange haben wir uns auf einen vermeidlich stabilen Nahen Osten verlassen, das Öl gekauft und nicht genau hingesehen? Seit 1918 wahrscheinlich, seitdem Europa nach dem Krieg die Gegend unter sich aufgeteilt hat und den Grundstein gelegt hat für eine Staatlichkeit, die unsere war, die aber gegen alle Zugehörigkeitsgefühle dort ging. Und geht. Wir haben hier im Westen Herrscher erfunden und gestützt, aber das wissen Sie ja alles.
Lange waren die Flüchtlinge ja auch in Italien, das damit nicht fertig wurde, und in Griechenland, das damit nicht fertig wurde, und in Südspanien und auf Malta. Lampedusa ist das Stichwort. Aber jetzt, wo Deutschland wenn auch nur für kurze Zeit seine Grenzen zumacht, dann ist das auf einmal ganz nah dran. Dann ist das eine Niederlage für Europa. Dann fühle ich einen Schock: mein Leben lang gab es scheinbar immer weniger Grenzen, und nun dies.
Lange war das alles weit weg
Und es reicht auch nicht, mit dem Finger auf die vermeidlich unsolidarischen zu zeigen, auf Polen und Ungarn. Damit ist nichts gewonnen. Werben müssen wir, nicht zeigen. Und dieses Mal können wir anders als in der Finanzkrise auch nicht einfach Geldsummen erfinden und auf den Markt werfen, dieses Mal stehen Menschen bei uns auf der Straße. Weiterlesen „Wer wir sind“