Papst Johannes Paul II. hatte den Ausdruck als erster Papst gebraucht: ältere Geschwister, fratelli maggiori. Eigentlich auch ältere Brüder, je nach Lesart. Gemeint sind damit die Juden, er wollte damit eine Verwandtschaft betonen, die in all den Jahrhunderten der Feindschaft übersehen und verdrängt wurde. Die Kirche hat keine wirklich gute Geschichte mit den Juden, erst im vergangenen Jahrhundert hat man theologisch ernsthaft den Dialog gesucht und gefunden. Und bei seinem ersten Synagogenbesuch hier in Rom hatte Johannes Paul diesen Begriff benutzt.
Papst Franziskus hat den bei seinem Besuch an diesem Sonntag zitiert und aufgegriffen. Er will Wertschätzung ausdrücken.
Juden und Christen glaubten an denselben Gott und hätten ein gemeinsames geistliches Erbe, zitierte der Papst Nostra Aetate, das Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils. Und dann ging er auf Johannes Paul II. bei seinem Besuch 1986 ein, der diese „bella espressione“ gebraucht habe, diesen guten Ausdruck, der älteren Brüder bzw. älteren Geschwister.
Allein, nicht alle Vertreter des Judentums sind glücklich über diesen Begriff. Der Oberrabbiner Roms, Ricardo di Segni, den der Papst an diesem Sonntag in der Synagoge besucht hat, hat sich dazu sogar wiederholt und auch erst kürzlich äußerst kritisch geäußert. Der Grund ist sehr biblisch, und deswegen habe ich oben auch immer beide Übersetzungen für „fratelli“ benutzt, „Brüder“ und „Geschwister“. Denn in der Bibel ist es immer der ältere Bruder, der sein Erstgeburtsrecht verliert oder der eben nicht der Gute ist. David ist der jüngste Sohn und wird dennoch König, Esau verliert gegen Jakob um ein Erbsengericht, die ganze Josefs-Geschichte im Buch Genesis stellt die Hierarchie von zuerst und später auf dem Kopf. Überhaupt ist das ein gerne genommenes Thema in der Schrift: Die tradierten Hierarchien von Ältestem und so weiter werden zugunsten des Willens Gottes umgekehrt. Mit einem Blick in die Schrift ist es also gar nicht erstrebenswert, als der ältere Bruder bezeichnet zu werden. Im Gegenteil.
Man könnte diesen Ausdruck also interpretieren als den Versuch zu sagen, dass wir Christen nun den Platz des Erstgeborenen eingenommen hätten und das Erbe anträten.
Umgekehrte Hierarchien
Das hat Johannes Paul so nicht gemeint und auch Franziskus nicht, das wird aus den Aussagen in der Synagoge klar, es ist der Versuch der Augenhöhe, der ohne Hierarchie und ohne Wichtigkeiten auskommt und der einfach nur die gleichen Wurzeln in den Vordergrund stellen will, nicht die Unterschiede.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Es geht hier auch nicht um irgendwelche Sensibilitäten, es geht darum genau hinzuschauen, was Ausdrücke wie dieser alles auch noch aussagen und wie sie verstanden werden können. Die Geschichte zwischen Juden und Christen erfordert das.
Wenn wir also von Geschwisterlichkeit sprechen, dann muss das sichtbar sein. Dann dürfen das nicht nur Worte sein. Dann muss offensichtlich sein, dass die Anti-Judaismen, die es lange in der Kirche gegeben hat und die es bei einigen noch geben mag, nicht akzeptabel sind. Dann muss die Augenhöhe, auf der wir uns begegnen, wirklich sichtbar und erfahrbar sein, nicht nur einfach postuliert.
Papst Franziskus kann das und hat das unter Beweis gestellt, einmal wieder. Aber er ist nur der Papst. Viel wichtiger ist es, dass auch wir das zeigen.
Die Wertschätzung und Sichtbarmachung der Geschwisterlichkeit ließe sich ganz konkret darin ausdrücken, den Osterfesttermin ob aller Bemühungen, ihn terminlich zu “vereinheitlichen” und gar zu fixieren, beweglich zu halten, denn das Osterfest beruht auf dem Passahfest der Juden, das gemäß Exodus 12,6 mit dem 14. Nisan beginnt. Nicht umsonst wird dieser Tag in der Bulle “Inter Gravissimas” Gregors XIII. als Luna XIV paschalis bezeichnet.
Das sehe ich so wie Sie. Daher – einer der wenigen Punkte, bei denen ich unserem Papst nicht zustimme – wäre ich auch gegen die Rückkehr zum julianischen Kalender für Ostern (und ohne völlig empfindungslos gegen die Orthodoxen sein zu wollen: Frühlingsbeginn ist eben am Tag der TagundNachtgleiche). Mit diesem Kalender rutscht Ostern immer weiter weg von Pesach. Und ich wäre auch für eine Korrektur der Terminberechnung wie in diesem Jahr (wir feiern Ostern einen Monat vor Pesach – weil im jüdischen Jahr ein Schaltmonat zusätzlich vorkommt). Warum sich nicht ganz nach der jüdischen Berechnung richten und sagen: Ostern ist am Sonntag, dem 15. Nisan bzw. am Sonntag nach dem 15. Nisan?
Grundsätzlich dürfte es möglich sein, ein gebundenes, am Frühlingsäquinoktium ausgerichtetes Mondjahr (also kein freies wie im Islam) algorithmisch zu finden, das Judentum und Christentum bei den Hauptfesten kalendarisch wieder mehr im Sinne von Exodus 12 und Levitikus 23 zusammenführt. Man würde gleichsam das Konzil von Nicäa, welches auf sichtbare Trennung von Passah und Ostern abhob bzw. eine zeitliche Kongruenz nicht als oberstes Ziel anstrebte, überwinden. Aus einer ‘kleinen’ Vereinigung zwischen Ost und West, könnte mit diesem Horizont eine größere werden; siehe auch: http://www.computus.de/bach/bach74.html. Nur müßten sich im Vatikan noch ein neuer Lilius und Clavius dafür finden. Wird Christus nicht auch als das Passahlamm und als Erstling der im Erdreich Schlafenden bezeichnet, wie die erste Frucht, die im Frühling aus der Erde sprießt und dankend geopfert wird?
Aber wir haben hier in Deutschland – wenn man nicht gerade in einer Großstadt lebt – keinen wirklichen Kontakt mehr zu Juden. Ich meine, ich hab das gerade nachgeschaut: es leben wohl nur noch 100 000 bis max. 200 000 Juden heute in Deutschland. Ich hatte, selbst im Studium, nie Kontakt zu jüdischen Studenten und da waren auch keine. Die einzigen Juden die ich mehr oder weniger kennengelernt habe, war ein Nachbar von uns – ein Holocaust-Überlebender – der seinen Glauben aber nicht groß auslebte und ein Professor der allerdings nicht jüdische Kulturgeschichte lehrte sondern muslimische.
Jetzt haben wir zu Recht so viel im Geschichtsunterricht über die jüdische Vergangenheit gelernt, gerade die in Deutschland, und wissen gar nicht aus eigener Erfahrung wie ein gläubiger junger Jude heute so lebt. Man muss als Deutscher und auf deutschsprachigem Gebiet hierzu schon in ein Jüdisches Museum – wie etwa das in München – gehen. Sie waren so lange Zeit Teil der Gesellschaft in deutschsprachigen Gebieten… es entwickelte sich sogar eine eigene Mischsprache aus Deutsch und Jüdisch. Also: vor der Hitlerzeit waren sie wirklich “Brüder” für die Deutschen bzw. die deutschen Christen (natürlich gab es schon viel früher Antisemitismus – schon in der Zeit der Romantik und sogar schon im Mittelalter – das wissen wir ja alles). Also, Fakt ist: ich kenne meinen jüdischen “Bruder” bzw. meine “Schwester” (die wie ich im Heute leben) als durchschnittliche deutsche Christin eigentlich nicht mehr. Das ist natürlich schade, natürlich ist es mit Hinweis auf die Geschichte aber auch verständlich, jedenfalls ist es seltsam und wenn der Papst von “Geschwistern” spricht, dann mag der Papst das wirklich so fühlen – da er als Geistlicher viele Juden kennenlernen konnte. Für mich ist dieser “Bruder” oder diese “Schwester” aber gefühlt leider eher ein Großonkel/eine Großtante aus Erzählungen. Das soll bitte nicht falsch verstanden werden… und wenn diese Zeilen verletzen könnten – dann bitte nicht veröffentlichen… dann ist mir das dann wohl nicht bewusst. Ich finde diesen Gefühlszustand jedenfalls sehr schade.
Vielleicht wäre eine Metaphernänderung sinnvoll. Ist das Judentum denn nicht vielmehr Mutterreligion als Schwesternreligion?
Jedenfalls müssen ChristInnen theologisch mit der Tatsache erst einmal fertig werden, dass Jesus zeit seines Lebens Jude war und blieb. Vielleicht könnte das auch einen Schlüssel für die Erläuterung der Überzeugung darstellen, dass das Judentum doch in irgendeiner Form ein echter Heilsweg ist, ohne die Bedeutung Christi für das Heil zu schmälern. Denn wenn die menschliche Natur Christi auch in ihrer nach der Auferstehung verklärten Form für uns Menschen Fürsprache einlegt, dann tut es diese Menschennatur als beschnittene…
O doch man kann auch hier in München in Kontakt kommen. Bei uns im Hof sitzt manchmal ein Rabbi während der Mittagspause eines jüdischen Geschäftes und ich habe mich schon versucht zu unterhalten, allerdings spricht er schlecht deutsch und ich bin eine deutsche Frau. In dem Geschäft war ich schon öfter einkaufen und habe auch dort versucht, ins Gespräch zu kommen. Es liegt doch an uns, ob wir Kontakte finden und knüpfen – übrigens auch im jüdischen Museum, freuen sie sich, wenn man auf sie zugeht.
Ja, ich war schon öfter im Jüdischen Museum in München. Schön zentral gelegen und das Umfeld architektonisch grandios konzipiert: die herrliche Synagoge, der Platz zwischen dem Museum und der Synagoge und in der Nähe gleich das wunderbare Stadtmuseum. Das kenn ich schon. Aber München ist eine deutsche Großstadt. Ein Kind vom Lande wie ich hat nicht so viel Möglichkeiten Juden kennenzulernen und dann noch religiös aktive Juden; Der Begriff ist ja auch etwas schwammig: Nicht jeder “Jude” ist auch fromm. Ein Begriff der sowohl für die Religion als auch für die Abstammung verwendet wird.
Ich musste mich überwinden, diese Zeilen hier einzustellen, denn ich habe das Gefühl, sie stellen ein sehr persönliches Gedankengut dar, doch trotzdem möchte ich es wagen, denn sie sind mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig:
Jesus begründet ein neues Volk, das die Vorzeit durch den alten Bund mit Gott im Reinen hält. Wie anders sollte der Frieden geschaffen werden, der uns alle in die Einheit trägt, die über alle Zeiten und alle Unwägbarkeiten im Willen Gottes als das Gute verankert ist? Lange habe ich über das Ich nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, es gibt nur ein Ich und das ist die Seele der Menschheit. Durch Gott getragen führt dieses Ich Menschen in die Zeit ihrer eigenen Erkenntnis. Als Volk Gottes haben wir mentale Fähigkeiten, die weit über das heute gekannte Maß hinaus reichen, um uns einander näher zu bringen. Der Mensch ist in seiner ganzen Komplexität dem Wesen Gottes entnommen, um Gott in seiner ganzen Vollkommenheit ins Licht der Welt zu rücken. Mein Problem heute ist, ich mache keine Unterschiede zwischen den Menschen und ich glaube an Gott und seine Allmacht in jeglichem Sein. Das birgt die Gefahr missverstanden zu werden, denn die Wahrheit ist nicht immer das, was die Menschen hören wollen, sie klärt jedoch die Beziehung zueinander so, dass man daran arbeiten kann. Das eigene Sein vermittelt bewusst die Verbindung zwischen Körper, Geist und Seele in einer Zeit voller Widrigkeiten. Wir sind alle die, die wir zu sein glauben und vertrauen darauf, die zu werden, die wir sein wollen. Wie wir das machen, das hat uns Gott frei gestellt, doch wir haben eine Grenze überschritten, die er nicht zulassen konnte, wir haben Mutter gedemütigt und ins Abseits gedrängt indem wir ihre Lebensaufgaben als minderwertiges Beiwerk einer sich immer stärker etablierenden Emanzipation der Frau abgetan haben, die sich bis in die Kirche vordrängt. Wo aber wäre die Menschheit ohne die Fülle eines Universums aus dem Schoß einer bereits emanzipierten “Mutter”? Der Mensch hat die Gabe sich selbst abzuschaffen, und dafür steht für mich die Vorzeit, sie bildet den Schutzschild für das Volk, das durch die Nachfolge Jesus Christus dadurch gesichert ist. Gott verbirgt in diesem Volk seine eigene Menschwerdung im Herrn Jesus Christus, um Hoffnung, Liebe und Zuversicht als die Einheit zu finden, die Gottvertrauen schaffen kann. Alles was wir je gewinnen können ist neue Lebenszeit in der Würde des Menschen, der in Gott seinen Namen trägt.
Kein neues Volk meines erachtens gibt es nur ein Volk für Gott, vor ihm sind alle Menschen gleich und niemand gleicher. Aber ich denke mal für Sie ist nur das einzig wahre Volk wer sich Christ nennt obwohl nicht jeder Christ immer entsprechend handelt als sei er einer.
Bei der Meldung zum selben Thema auf kath.net (www.kath.net/news/53633) war gestern noch die Kommentarfunktion angeschaltet und heute ist sie sang- und klanglos verschwunden. Roland Noé wollte wohl antisemitische Kommentare vermeiden… Schau an. Welch Überraschung.
@ Rosi Steffens. Ich würde Sie um etwas bitten, was mir sehr am Herzen liegt. Jesus begründet kein neues Volk. Er wollte – zeit seines Lebens selber Jude – SEIN Volk, also Israel, neu sammeln. Diese Neusammlung Israels scheiterte und aus diesem Scheitern entstand die Kirche. Die Rede vom “neuen” Volk Gottes halte ich für einen Antijudaismus, den wir schleunigst hinter uns lassen sollten. Wir Christen sind eingepfropfte wilde Ölzweige in einem noblen Stamm.
Ich glaube da haben Sie mich missverstanden, denn die Begründung eines neuen Volkes schließt doch das alte Volk nicht aus, ganz im Gegenteil, es baut auf dessen Erkenntnissen auf und wächst erst durch deren Zustimmung.
Damit will ich sagen, der wahre Glaube begründet sich im Universum, das die Existenz Gottes dem Menschen vorausstellt, der in Würde eintreten will. Die Wirklichkeit liegt im Bewusstsein der Menschen, die sich ihrer Zeit für würdig erweisen. Gott allein entscheidet über die Menschenwürde der Wesen, die unter sein Dach eintreten.
Das klingt so, als sei das Universum eine Mietskaserne, die Gott gebaut hat und an solche Menschen vermietet, die seiner würdig sind.
Die Würde des Menschen ist oberstes Gebot der Menschlichkeit, das sollte man ernst nehmen, so man sich an der Schöpfung Gottes bereichert. Außerdem verlangt Gott auch keine Miete, ganz im Gegenteil, er opfert uns seine Zeit.
In Evangelii Gaudium behandelt Papst Franziskus auch die Beziehungen zum Judentum. Er gebraucht hier die Formulierung “Kinder Israels”. (248)