Die Güte darf niemals über Bord gehen, auch gegenüber Hass nicht, auch gegenüber Feinden nicht. Die Haltung, die sich in diesen Worten ausdrückt, ist zutiefst christlich und sie atmet auch in der neuen Enzyklika des Papstes. Die Worte stammen aber nicht vom Papst selber, sondern sind ein Zitat, der der Papst in seinem Schreiben Amoris Laetitia (AL) sehr ausführlich aufgreift, es ist das längste wörtliche Zitat (abgesehen von den Übernahmen aus den Synodendokumenten), das sich in diesem postsynodalen Text findet. Der Urheber ist Dr. Martin Luther King, in der Enzyklika zitiert der Papst eine berühmte Predigt, gehalten am 17. November 1957 in der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery, Alabama (AL 118).
„Der Mensch, der dich am meisten hasst, hat etwas Gutes an sich; sogar die Nation, die dich am meisten hasst, hat etwas Gutes an sich; sogar die Rasse, die dich am meisten hasst, hat etwas Gutes an sich. Und wenn es dir gelingt, das Gesicht eines jeden Menschen zu betrachten und tief in seinem Innern das zu sehen, was die Religion das „Abbild Gottes“ nennt, dann beginnst du, ihn trotzdem zu lieben. Es kommt nicht darauf an, was er tut, du siehst dort das Abbild Gottes. Es gibt ein Element der Güte, das du niemals über Bord werfen darfst […] Eine andere Weise, in der du deinen Feind liebst, ist diese: Wenn sich die Gelegenheit bietet, deinen Feind zu besiegen, ist genau dies der Moment, in dem du das nicht tun darfst […] Wenn du dich auf die Ebene der Liebe, ihrer großen Schönheit und Macht, erhebst, sind das Einzige, das du zu besiegen suchst, die bösartigen Systeme. Die Menschen, die in diesen Systemen gefangen sind, die liebst du, du trachtest jedoch nur danach, dieses System zu besiegen […] Hass gegen Hass steigert nur die Existenz des Hasses und des Bösen im Universum. Wenn ich dich schlage und du mich schlägst und ich dir den Schlag zurückgebe und du mir den Schlag zurückgibst und so weiter, dann siehst du das geht ewig so weiter. Es endet einfach niemals. An irgendeinem Ort muss irgendjemand ein bisschen Verstand haben, und das ist der starke Mensch. Der starke Mensch ist derjenige, welcher die Kette des Hasses, die Kette des Bösen durchschneiden kann […] Irgendjemand muss genügend Religion und Moral haben, um sie durchzuschneiden und in das besondere Gefüge des Universums dieses starke und machtvolle Element der Liebe injizieren.“
„Die Liebe hält allem Stand“ ist das Zitat aus dem Korintherbrief (1 Kor 13: 4-7), das der Papst mit diesen Worten Kings auslegt, Panta hypoménei wie es auf Griechisch heißt. Diese Liebe ist nicht überhöht und ein Ideal, sie werde „mitten im Leben gelebt“, wie der Papst sagt. Er blickt also in die Schrift und will ergründen, was wir eigentlich zur Liebe glauben.
Eine Frage der Haltung
Und dort hinein gehört also Dr. Martin Luther King.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Papst den berühmten Baptistenprediger und Bürgerrechts-Anwalt der Afro-Amerikaner in den USA zitiert. Eine prominente Rolle hatte Dr. King auch bei der Rede des Papstes vor dem US-Kongress, was ein Mitglied – der selber mit King marschiert war – zu Tränen rührte und was an jenem Tag auf allen Kanälen im US-TV zu sehen war.
Wir hier bei uns sprechen von Martin Luther King vor allem, wenn es um die Frage von Gerechtigkeit geht. In den Rassen-Auseinandersetzungen in den USA hatte er für die Rechte derer gekämpft, denen sie vorenthalten wurden, Stichwort Gleichberechtigung aller. In dieser Predigt wird aber klar, was genau King damals getan hat. Es ging ihm nicht – nur – um das Einfordern von Recht, von Gesetz, von Regeln. Es ging ihm – darüber hinaus – um eine innere Haltung. Und das verbindet den Prediger mit dem Papst, genau hier findet der Papst das, was ihn an Martin Luther King anspricht. Wie King es in der Predigt sagt: „Wenn sich die Gelegenheit bietet, deinen Feind zu besiegen, ist genau dies der Moment, in dem du das nicht tun darfst“. Nicht der Sieg also über die Weißen, sondern viel mehr steht auf dem Spiel. Würde, Recht, Liebe, und natürlich auch die inneren Bewegungen. Der Hass oder die Wut auf die Unterdrücker sind eben nicht gerecht, sie sind Gelegenheit, überwunden zu werden. Das ist die Grundhaltung, die King predigt. Wenn ich unterdrückt werde, dann muss ich an mir arbeiten, dann muss ich die Feindschaft in mir überwinden. Auch wenn ich unterdrückt werden, wenn ich zum Opfer gemacht werde, dann darf ich nicht alles in den Anderen projizieren. Die wahre Kraft kommt woanders her, aus dem Inneren, der Friedlichkeit und der Überwindung der – berechtigten – Gefühle. Sie kommt anders gesagt aus der Umkehr bei mir, auch wenn ich Opfer bin. Das ist stark.
„Handwerker des Friedens“ sein, nennt das der Papst, zum Beispiel in der Zentralafrikanischen Republik, in der Vergangenheit nicht gerade ein Hort des Friedens. „Wenn jemand dir Böses antut, versuche zu verzeihen. Kein Hass! Viel Vergebung!“, so Franziskus am 29. November 2015 zu Jugendlichen. Nur so werde man zum „Sieger“ und nur so hat ja auch Martin Luther King die Autorität bekommen, die ihn die Rassengesetze in den USA zertrümmern lassen half. Der Hass ermordete ihn schließlich, hat ihn aber nicht besiegt.
Wider die Abschottung und die Mauern
Vor dem US-Kongress hatte der Papst vier Persönlichkeiten zu jeweils einer Dimension seiner Themen vorgestellt, King stand dabei für „Freiheit in der Vielfalt und Nicht-Ausschließung“. Angeschlossen an seine Erwähnung von King geht der Papst auf die Flüchtlingskrise ein, und es sollte angesichts der Wahlerfolge der Abschotter und Mauerbauer in Deutschland und Österreich auch in unseren Ohren klingeln:
„Unsere Welt steht vor einer Flüchtlingskrise, die ein seit dem Zweiten Weltkrieg unerreichtes Ausmaß angenommen hat. Das stellt uns vor große Herausforderungen und schwere Entscheidungen. Auch in diesem Kontinent ziehen Tausende von Menschen nordwärts auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Lieben, auf der Suche nach größeren Möglichkeiten. Ist es nicht das, was wir für unsere eigenen Kinder wünschen? Wir dürfen nicht über ihre Anzahl aus der Fassung geraten, sondern müssen sie vielmehr als Personen sehen, ihnen ins Gesicht schauen, ihre Geschichten anhören und versuchen, so gut wir können, auf ihre Situation zu reagieren. In einer Weise zu reagieren, die immer menschlich, gerecht und brüderlich ist. Wir müssen eine heute allgemeine Versuchung vermeiden: alles, was stört, auszuschließen. Erinnern wir uns an die goldene Regel: »Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen« (Mt 7,12). Diese Regel weist uns in eine klare Richtung. Behandeln wir die anderen mit derselben Hingabe und demselben Mitgefühl, mit dem wir behandelt werden möchten! Suchen wir für die anderen nach denselben Möglichkeiten, die wir uns selber wünschen! Begleiten wir die anderen in ihrem Wachstum, wie wir gerne selber begleitet werden möchten! Kurz gesagt: Wenn wir uns Sicherheit wünschen, dann sollten wir Sicherheit geben; wenn wir uns Leben wünschen, dann sollten wir Leben geben; wenn wir uns Möglichkeiten wünschen, dann sollten wir Möglichkeiten bereitstellen. Der Maßstab, den wir an die anderen anlegen, wird der Maßstab sein, mit dem die Zeit uns messen wird.“
Auch hier ist die Richtung klar: die Überwindung der eigenen Sorgen, Bedenken, Ängste, Gefühle, und zwar nicht als Selbst-Vervollkomnungs-Übung, sondern unter der Überschrift der Barmherzigkeit.
Dr. Martin Luther King hat das verstanden und gelebt, sein starken Worte und sein überzeugendes Handeln haben gezeigt, wie das geht und haben gezeigt, was für eine Kraft das entwickeln kann. Das würdigt der Papst und das will er auch in seiner Enzyklika ausgedrückt sehen.
Ist schon ein seltsames Zitat in so einem Schreiben, nicht?
Ein sehr beeindruckendes Zitat, aber es passt nicht recht zum Verhältnis von Ehepartnern.
Das bleibt irgendwie ein großes Fragezeichen.
Bei Martin Luther King geht’s um die Feindesliebe. Wenn eine Ehe mal so weit „fortgeschritten“ ist, na dann viel Freude!