Ein Volkstribun ist eine Figur, den die Menschen sich gewählt haben, und der für sie ihre Anliegen vertritt. So ungefähr kann man diese alt-römische Figur beschreiben, und so habe ich den Begriff auch in meinem Bericht über die Rede von Papst Franziskus vor den Volksbewegungen benutzt. Papst Franziskus bringt etwas ins Wort, für sich und für andere.
Bei der Rede ist er sehr deutlich geworden, wir Europäer haben uns einiges anhören müssen. Wir reichen Länder haben uns einiges anhören müssen. Bereits bei Evangelii Gaudium und dann wieder in Laudato Si’ war das so, nun aber noch einmal in einer Rede, in direkter Kommunikation. „Die Welt erträgt es nicht mehr“ und „Wir wollen und brauchen Veränderung“. Strukturen und Haltungen müssen sich ändern, so der Papst. Eine wunderbare, lange und ausführliche Zusammenfassung dessen, wie er über die Frage denkt, wie wir mit der Welt – sowohl Mitwelt auch Mitmenschen – umgehen.
Interessant ist, wie er uns mitnehmen will. Der Papst stellt Fragen: Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist …? Ich zitiere: „Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist in einer Welt, in der es so viele Campesinos ohne Grund und Boden, so viele Familien ohne Wohnung, so viele Arbeiter ohne Rechte gibt, so viele Menschen, die in ihrer Würde verletzt sind? Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn so viele sinnlose Kriege ausbrechen und die brudermörderische Gewalt sich selbst unserer Stadtviertel bemächtigt? Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn der Boden, das Wasser, die Luft und alle Wesen der Schöpfung einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sind?“
Erster Schritt: Einsicht
Es braucht also als erstes Einsicht. Einsicht ist etwas, was ich selber leisten muss. Das kann niemand für mich tun, das ist der Wert dieses Wortes. Der Papst will also, dass wir selber den Schritt machen. Da kann keiner an der Tafel uns vormachen, was alles der Fall ist, es braucht unsere eigene Aktivität.
Dem entspricht dann auch, dass er sagt, dass die Änderung der Strukturen nicht ausreicht, weil diese schnell bürokratisch wird. Die Perspektive, die er einnimmt, ist auch nicht nur die der Verlierer und Ausgeschlossenen. „Bei den verschiedenen Begegnungen, auf den verschiedenen Reisen habe ich festgestellt, dass es in allen Völkern der Welt eine Erwartung gibt, eine starke Suche, ein Sehnen nach Veränderung. Selbst in dieser immer kleineren Minderheit, die glaubt, von diesem System zu profitieren [damit sind wir gemeint, Anm Hagenkord], herrscht die Unzufriedenheit und besonders die Traurigkeit. Viele erhoffen einen Wandel, der sie von dieser individualistischen, versklavenden Traurigkeit befreit.“
Dieses System – und damit begibt er sich aus dem Feld der Politik hinaus – entspreche nicht dem Plan Jesu. Ganz klar und deutlich. Und das sich kümmern um die gerechte Verteilung ist kein bloßes Gutmenschentum, kein Hobby eines Papstes: Sie „ist eine moralische Pflicht. Für die Christen ist die Verpflichtung noch stärker: Es ist ein Gebot.“ Kurz und knapp, was in Laudato Si’ noch viel ausführlicher gestanden hatte: Für Christen ist die Ökologie des Menschen keine Option, sie ist Teil des Glaubens.
Vereinnahmung des Papstes?
Nun gibt es bereits wieder viel Kritik an dem Papst, vor allem auch auf dem Hintergrund, dass vor ihm Präsident Evo Morales gesprochen hatte und zum Beispiel die Volksabstimmung in Griechenland den „Beginn der Befreiung Europas“ genannt hatte, von anderen anti-USA Bemerkungen abgesehen. Und dass Morales ein Che Guevara Bild am Revers trug, war auch kein Zufall. Er wollte den Papst für sich vereinnahmen.
Aber das geht nicht so einfach. Vatikansprecher Pater Federico Lombardi hat das wunderbar ausgedrückt: Jeder und jede versteht den Papst und das, was er sagen will. Wer versucht, seine Aussagen auf einen Zweck zu verengen, der geht nicht nur fehl, die Menschen merken das auch.
Das ist vielleicht die größte rednerische Fähigkeit des Papstes: Er wird verstanden und jeder, der ihn benutzen will, fällt auf. Nicht dass es nicht trotzdem versucht würde, Morales war auf so ziemlich jedem Foto drauf, das die Nachrichtenagenturen angeboten haben. Aber der Papst hat ein Gleichgewicht in den Aussagen, die diese Rede noch lesbar machen, wenn Morales bereits im Ruhestand ist.
Und damit bin ich wieder bei der Einsicht, bei dem Schritt, den ich tun muss oder zu dem ich eingeladen bin, den jedenfalls keiner für mich tun kann. Ich brauche eine eigene Überzeugung, ich kann sie mir nicht bei Politikern oder in den Medien sozusagen abholen oder ausleihen. Medien helfen, helfen sogar sehr, wenn es um Umstände und Analysen geht – so sie denn stattfinden. Aber letztlich brauche ich eine eigene Haltung.
Und dann kann auch ich etwas tun.
Ich stelle das auch fest: Menschen unserer Welt, der Welt die eigentlich alles besitzt, sind oft sehr traurig bzw. – schlimmer noch: sie stumpfen einfach ab, konsumieren bloß noch, leiden an “geistiger Verfettung”.
Es ist also gar nicht nötig, dass man in die “dritte Welt” reist um Notbedürftigen zu helfen. Ich kann überall etwas bewirken, auch vor Ort. Könnte man Menschen für das Christentum mehr begeistern, ihnen zeigen, wie es das Leben bereichern kann, würde automatisch so etwas wie eine Kettenreaktion erfolgen: Solche “Infizierte” könnten dann wiederum nicht anders als über die Ungerechtigkeiten innerhalb der Welt nachdenken und würde beispielsweise nicht so primtive Parolen über etwa die Flüchtlinge äußern.
Ich lebe ja auf dem “guten, schönen Land”, da wo die Welt angeblich noch in Ordnung ist, in einem kleinen Markt. Aber auch hier werden demnächst Flüchtlinge einquartiert werden und das ist gut so. Ich freu’ mich drauf.
Und ich habe in München ein kleines Projekt gefunden, das ein großes werden könnte: von anscheinend ungenutzten Wohnraum aufzuspüren und ihn an eine ehrenamtliche Gruppe zu melden, die wiederum versucht herauszufinden, ob hier Wohnraum tatsächlich bewusst dem Verfall preisgegeben wird, um es dann den entsprechenden Behörden der Stadt zu melden. Wir leiden hier in München unter einer massiven Wohnungsnot gerade im Niedrigpreissektor und darunter, dass immer mehr Hausbesitzer (meist keine keine kleinen Privatbesitzer) bewusst Häuser verfallen lassen um dann auf diesen Grundstücken neue mit sehr teuren Mieten bauen zu können. Und hier kann ich trotz meiner eingeschränkten Möglichkeiten aufgrund meiner gesundheitlichen Situation mithelfen, indem ich mich immer mal wieder einfach neue Strecken mit Bus oder Straßenbahn fahre und aufmerksam bin und dann die entsprechenden Häuser fotografiere und melde.
Genau das ist es, was ich an Papst Franziskus so sehr schätze, er tritt für sich selbst ein und übernimmt nicht einfach eine vorgefasste Position, die bereits schon jemand anderer inne hat. Das ist nicht bequem, aber es fördert Neues zu Tage, das bedacht werden kann, um es als geistigen Anteil des Lebens aufzunehmen. Die meisten seiner Predigten und Reden lese ich auf Radio Vatikan und auch seine beiden Apostolischen Schreiben habe ich in mein Herz geschlossen. Er gibt mir persönlich sehr viel mit seinen Worten, denn sie tragen Gedanken in die Bevölkerungen aller Länder, um den Menschen überall Möglichkeiten zu schenken sich damit auseinander zu setzen und etwas Neues, Einzigartiges zu schaffen, das Leben mit sich selbst, im Bewusstsein selbst erkannt worden zu sein, in den Gedanken des Papstes. Diese Gedanken kann jeder mit ihm teilen, denn sie nehmen sich einer Sicht der Dinge an und stellen sie fest, um dann dem Einzelnen die Chance zu geben, etwas dafür einbringen zu können. Das empfinde ich als sehr tröstlich, denn wer hat schon einen Papst, der die ganze Welt mit ihm teilt, indem er sie vor Augen führt.
Die Welt leidet, weil es viel zu viele Menschen gibt, deren Ansicht des Lebens ignoriert wird, weil sie zu unbedeutend für das große Wirken scheint, das sich unter den Eliten aller Länder abspielt, ohne Rücksicht auf genau diese für den Einzelnen bedeutsamen Kleinigkeiten zu nehmen. Ich hoffe sehr, der Papst kann möglichst viele Menschen für sich gewinnen, um ihnen das zu geben, was jeder Mensch am dringendsten braucht, den Blick auf das Ganze, um die Hoffnung und Zuversicht im Glauben an Gott zu nähren, sodass daraus ein für jeden passender Schuh wird, der nicht mehr drückt und die gegenseitige Liebe nährt. Nicht jeder Mensch ist ein Schuster, doch Schuhe braucht fast jeder, um auch die steinigsten Wege ohne bleibende Blessuren zu meistern und geteiltes Leid ist halbes Leid, doch geteilte Freude ist doppelte Freude.