Es ist ein berühmter Begriff aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil, der seitdem in der Kirchensprache fest Platz genommen hat. Wir sollen die Zeichen der Zeit erkennen. Mir kommt der Begriff etwas gespreizt vor, kein Mensch redet heute so – und ich bezweifle, dass das früher mal so war. Warum auch soll die Zeit, irgend ein Abstraktum, da außerhalb von uns sein und wir sollen Zeichen ihrer Anwesenheit oder ihrer Art oder ihres Charakters erkennen? Irgendwie schräg. Aber da das nun mal fester Kirchen-Bestandteil ist, bleiben wir dabei. Zumal mir genau das als Aufgabe gestellt wurde für einen Vortrag und eine Podiumsdiskussion in Wien. Auch wenn das alles hier im Blog nicht wirklich neu ist, stelle ich das ein, vielleicht ist ja jemand neu hier, und so darf ich diese ‚Zeichen der Zeit‘ à la Franziskus darf auch hier anbieten.

Es beginnt in Lampedusa. Die Geschichte ist mittlerweile gut bekannt, die brauche ich hier nich noch mal erzählen. Das ‚Zeichen der Zeit‘ hier sind aber nicht die Flüchtlinge, so wichtig das Thema für uns auch ist und wenn wir ehrlich sind auch war, auch wenn wir lange nicht hingeschaut haben. Das Thema ist das der Haltung, die der Papst einnimmt. Zehntausende sind im Meer elendig umgekommen und wir weinen noch nicht einmal mehr, so Franziskus damals. Mehr als Aktion ist erst einmal eine innere Einstellung gefragt. Christlich nennen wir das Umkehr, wir müssen und bekehren auf den Weg, der uns das erkennen lässt.
Wir müssen eine Haltung einüben und einnehmen, um trauern und uns freuen und zornig sein und so weiter zu können.
Ähnliche Haltungen habe ich beim Papst in Israel gesehen, an den beiden Mauern. Zuerst an der Trennmauer, die Israel zu Palästina errichtet, dann an der Westmauer des Tempels. Beide Male dieselbe körperliche Haltung, die eine innere Haltung wunderbar ausdrückt. Der Papst klagte, er klagte nicht an. Keine politische Aussage, sondern ein inneres Trauern über Gewalt und gewaltsame Trennung. Medial wird das gerne als politische Symbolik verstanden, wie der Kniefall Willi Brandts. Aber da ist mehr.
Wenn wir auf die Welt blicken, auf die Wirklichkeit um uns herum – und die ist ja bekanntlich wichtiger als die Idee – auf die ‚Zeichen der Zeit‘ also, dann braucht es als erstes eine Haltung, damit umzugehen. Keinen Aktionsplan, keine politische Entscheidung.
Wenn man die Aussagen des Papstes, vor allem die pastoralen, geistlichen in seinen Predigten anhört, dann findet man Spuren genau von dieser Haltung. Wenn er etwa über die Familie spricht und sagt, dass die wichtigsten drei Worte in der Familie ‚Danke‘, ‚Bitte‘ und ‚Entschuldigung‘ sind, spricht daraus keine Pädagogik, sondern eine Haltung zu den anderen in der Familie.
Und der Weg dahin ist die Umkehr. Das ist kein großer Bekehrungsweg, das ist klein, alltäglich, immer wieder, sehr konkret und dringend und immer nötig.
Mondanità
Ein zweites ‚Zeichen der Zeit‘ ist das, was der Papst mit dem französischen Theologen Henri de Lubac „Spirituelle Weltlichkeit“ nennt.
Das bedeutet eine Orientierung an dem, was wir die ‚Welt‘ nennen, also an einer Selbstbezogenheit, an einem Materialismus und so weiter.
Letztlich ist das nicht weit weg von dem, was Papst Benedikt XVI. in Freiburg die „Entweltlichung“ genannt hat. Was entscheidet, was christlicher Glaube und christlich geprägtes Leben ist? Lassen wir uns das von außen vorgeben? Trennen wir unser Leben in einen christlichen und einen restlichen Teil?
Wie unterscheide ich nun, ob ich weltlich bin? Pater Bergoglio zitiert einen seiner Lieblingsheiligen – damals Seligen – den Patron der Exerzitien und von Papst Franziskus dann 2013 heilig gesprochenen Jesuiten Pierre Favre oder Peter Faber: Um den Zustand einer Seele zu erforschen soll man dieser Seele ein Mehr (magis) vorschlagen, also etwas, was mehr noch als bisher dem Willen Gottes entspricht. Wer sich öffnet und „Ja“ sagt, auch unter Risiko, der hat den Horizont der Hoffnung. Wer sich verschließt und das als Störung empfindet, der steckt schon in der Weltlichkeit.
Alles hängt mit allem zusammen
Der dritte Fokus auf die Wirklichkeit wird vom Papst lang und breit in seiner Enzyklika Laudatio Si’ behandelt. Alles hängt mit allem zusammen – die Sorge um die Schöpfung, um das Leben, um die Menschen. Seine Aussage von der Wirtschaft, die tötet, ist auf sehr viel Widerstand gestoßen, Ökonomen weisen zurecht darauf hin, dass wir auf gutem Wege sind, Armut weltweit zu bekämpfen und dass unser westliches Wirtschaftssystem dabei hilft. Anders als andere Systeme.
Der Papst ist aber kein Theoretiker. Er sieht, dass der trickle-down-effect, der uns versprochen wurde, nicht eintritt, die Reichen werden reicher und immer mehr Menschen haben immer weniger. Wir schließen Menschen von unserer Gesellschaft aus, wir werfen sie weg, in den Worten des Papstes, ungeborenes Leben, junges Leben ohne Perspektive, altes Leben das nicht mehr „funktioniert“ wie es unsere Konsumwirtschaft will.
In der Kirche
Gehen wir auf die Kirche ein und schauen da auf den Fokus auf die Wirklichkeit, springt uns der Satz „die Synodalität ist der Weg der Kirche im dritten Jahrtausend“ ins Auge. Geäußert hat der Papst ihn während der vergangenen Versammlung der Synode. Das ist keine Verlagerung von Autorität, hier geht es nicht darum, einem Gremium die Entscheidungen zu übertragen, das hat der Papst ganz klar mit Verweis auf Kanon 331 des CIC deutlich gemacht: dem Papst allein gebührt die unmittelbare und umfassende Gewalt in der Kirche.
Synodalität spricht über ein weiteres Thema, das damit zu tun hat: die Balance zwischen Lokalität und Universalität in der Kirche bei medialer Gleichzeitigkeit. An anderer Stelle habe ich das ausführlicher besprochen, ein Hinweis soll hier genügen.
Aufbruch
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Kirche. Uns hat er mit Evangelii Gaudium eine Vision – ich benutzte hier ein großes Wort – von einer Kirche der Zukunft gegeben. Das lohnt sich immer und immer wieder zu lesen und gemeinsam zu studieren, da steckt viel drin, was ich hier stundenlang ausbreiten könnte. Aber nicht werde.
Nur ein Gedanke daraus, der hierher passt: Der Papst will eine „Ständige Haltung des Aufbruchs“ in der Kirche, er will dass wir aus uns heraus gehen, imm wieder die Verben der Bewegung, des Aufstehens, des nicht sich selbst in sich Einschließens. Der Papst hat auch keine Angst vor dem Wort „Revolution“, er will die Revolution der Liebe Gottes.
Das Projekt Franziskus funktioniert nur, wenn es in uns selber funktioniert. Wenn man es verlegt, etwa von der Person in die Institution und wartet, bis dies und das geändert wird, dann wird daraus nichts. Oder in den Worten des Papstes: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln“. Oder: „brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten!“ Wo ist hier das Zeichen der Zeit? Ähnlich wie oben, bei der Frage nach der Haltung, ist es ein ‚Zeichen‘, das in uns selber zu entdecken ist.
Ja, es braucht Reformen, strukturelle Reformen, angefangen beim Vatikan und dann aber auch in allen Pfarreien, die wir kennen, denn die Kirche von vor 30 Jahren gibt es nicht mehr. Aber dahinter und darunter und darinnen liegt das Aufbrechen, liegt das Zeichen, das wir in uns selber erkennen müssen.
Unruhe
A propos Revolution: Seid Revolutionäre! Das ruft er jungen Menschen zu.
Hagan lìo! Macht Unruhe, Krach, Chaos! Schwimmt gegen den Strom! Das sagt er Jugendlichen, wenn es um die Familie geht. Die Welt traut euch nicht zu, wirklich zu lieben, wirklich treu zu sein, und macht euch vor, dass alle Entscheidungen nur vorläufig seien. Habt Mut, seid Revolutionäre. Gebt euch nicht zufrieden mit dem, was ist. Und hier ist dann noch so ein ‚Zeichen der Zeit‘: das sich zu sehr zufrieden geben mit dem, was ist.
In der Flüchtlingskrise lernen wir im Augenblick, was es bedeuten kann, wenn ein ganzer Kontinent aus der Selbstzufriedenheit heraus gerissen wird. Angst, Abschottung, sich Wehren, aber auch Mitgefühl, Hilfe, Selbstlosigkeit, alles kommt vor. Mit der Unruhe werden wir ehrlich und werden mit dem konfrontiert, was wirklich in uns selber drin steckt.
Danke für diese erhellende, weil tiefschürfende und aufrüttelnde Darstellung der Botschaft von Papst Franziskus. Er ist eben viel mehr als nur ein Kirchenreformer. Er bringt die Botschaft des Evangeliums heute neu zur Geltung.
Ich nehme mir vor, das „mehr“ (magis) zu suchen, das Gott von mir will. Und ich will den Papst nachahmen in der Klage (nicht Anklage). So viele Menschen müssen so viel leiden. Auch die Schöpfung leidet. Gott sei es geklagt!
Und wenn der letzte Satz im Blog stimmt: „Mit der Unruhe werden wir ehrlich und werden mit dem konfrontiert, was wirklich in uns selber drin steckt“, dann wird diese heilsame Unruhe, die Papst Franziskus stiftet, die Kraft des Heiligen Geistes wecken, der in uns ist. Er wird das Angesicht der Erde erneuern.
Die Zeichen der Zeit liegen in der gefühlten Menschlichkeit. Sie ist es, die uns anleiten sollte uns einer Prüfung zu unterziehen und unsere Vorgaben zu überdenken. Unzählige Generationen und Zeiten führten den Menschen in seine Daseinsberechtigung, durch Gott. Wie jedoch kam die Zeit in dieses Spiel des Lebens? Wie wurde Gott zu dem was er heute für viele von uns ist? Ist nicht Gott allein das Zeichen der Zeit, das uns alle miteinander verbinden kann oder aber uns voneinander trennt? In ihm wuchs unser Wesen zu dem was wir heute als Menschlichkeit erkennen können. Gott führte den menschlichen Anfang in ein lebenswertes Leben, dessen wir uns alle bewusst werden sollten. Es wird keine Zeichen der Zeit mehr geben, denn wir haben sie alle hinter uns gebracht. Der Papst weist uns immer wieder darauf hin. Es ist das Gute in jedem von uns Menschen, nach dem wir suchen müssen, um daraus schöpfen zu können. Die Zeit ist alles was uns dafür zur Verfügung steht und wir sollten an den Traditionen festhalten, um die Vergangenheit vor dem Vergessen zu schützen. Jeder hat dafür Möglichkeiten gefunden, die man ihm auch zugestehen sollte. Wichtig am Kalender sind nicht seine menschlichen Vorgaben, er lebt von seinen göttlichen Eingebungen. Der Heilige Geist schöpft aus dem, was da ist und nicht aus dem, was ihm angeboten wird. Zahlen dienen der Begrenzung des Menschen auf die Dreieinigkeit seiner eigenen Herkunftsgeschichte und nicht der Ermittlung einer Unendlichkeit, die es nicht gibt, nicht für den einzelnen, nur für die Gemeinschaft aller. Es gab eine Zeit, da hielt ich mich nur an der Zahl drei fest, mein ganzes Leben drehte sich um diese Zahl, um nicht den Überblick zu verlieren. Gott ist der Halt, den uns die Zeit bietet. In seiner Dreifaltigkeit liegt verborgen, was uns alle zu Menschen macht. Wenn also Menschen versuchen durch Kalender Zeit in Bahnen zu lenken, so setze ich dies mit dem Versuch gleich, Gott zu Maßregeln. Tragen Menschen jedoch Traditionen mit der Zeit in das Leben, so ist das die feste Annahme dessen, was sie aus der Zeit schöpfen können. Was nützen uns all unsere Errungenschaften, die wir als Wohlstand ausleben, wenn nachfolgende Generationen nicht mehr lernen, wie man aus Nichts Alles machen kann?
Was mir jetzt auffällt, ist die Übersetzung von diesem „lio“ mit „Chaos“. „Chaos“ ist kein positiv besetzter Begriff, „Unruhe“ oder „Krach“ das sind dagegen Wörter die kleinere Dimensionen betreffen: Aber wenn ich Chaos verursache, dann hat das ein bisschen was von einer Katastrophe an sich, dann wird eine alte Ordnung nicht nur ein wenig sondern völlig umgekrempelt bzw. auch etwas zerstört.
Und dieses Porträt von Papst Franziskus mit dem Titel „Sitz des Chaos“ ist schon ziemlich herausfordernd. In früheren Zeiten hätte der Vatikan solche Bilder auf einen Index gesetzt. Also muss irgendwas passiert sein – in unserer Zeit bzw. unserem gegenwärtigen Kulturkreis – das uns den Begriff „Chaos“ anders verstehen lässt, sogar positiv verstehen lässt, als das noch in der Antike oder dem Mittelalter und der Renaissance vor allem gängig war.
In der Genesis wir von der Erschaffung der Welt und des Universums so geschrieben, dass man daraus erkennt, dass eines der obersten Prinzipien dabei das Ordnung-Schaffen gewesen sein musste.
Plötzlich wird ein Papst mit dem „Chaos“/ der Verwirrung gleichgesetzt. Das find ich – ehrlich gesagt – ganz schön extrem. Gerade Jesuiten sprechen doch bei der „Unterscheidung der Geister“ von den sog. Geistern der Verwirrung. Und wenn wir das Vater-Unser beten, heißt es da eben auch: „und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde“.
Ich versteh schon irgendwie, dass dieser Papst ein rotes Tuch für manche Katholiken ist. Für mich ist er’s nicht… aber ich versteh die Gegenseite schon auch.
Nachsatz: nicht Im Vater-Unser sondern danach wird dieser Absatz gesprochen. Also, ich bin leider ein Chaot. Sehen Sie, Chaoten sind irgendwie sympathische Menschen… Vielleicht rührt diese positivere Besetzung von „Chaos“ ja daher… Also, dass jemand nicht perfekt sein muss. 🙂
Zwei Dinge sind mir aufgefallen:
Zuerst die innerliche Haltung der Klage, des sich-berühren-lassens.Eine Haltung von Mitgefühl statt bloßen Mitleids, das nichts kostet und keine Konsequenzen hat, da es nicht mit einem tatsächlichen Mit-Leiden einhergeht.Das Einzuüben bringt uns tatsächlich mit unseren Ursprüngen, dem Guten in uns, ja, mit unserer Seele in Kontakt.
Als Zweites, wie der Papst gerade die Jugendlichen aufruft, für Unruhe, Störung des Gewohnten zu sorgen, die Eingefahrenen aufzurütteln und unruhig zu machen, sie aus ihrer bequemen Komfortzone zu den Aufgaben dieser Zeit zu rufen. Nur von einem habe ich dasselbe gehört, nur noch einer traute den Jugendlichen solche Kompetenz zu und gab sie ihnen, wenn er mit ihnen sprach: Roger Schutz.Nie wurde er enttäuscht, wenn er den Jungen Verantwortung übertrug und zumeist wuchs denen eine besondere Energie und Fähigkeit zu, die sie auch nicht verloren, wenn sie vom Hügel nach Hause zurückkehrten.
Mögen auch unsere Bischöfe, denen er die Synodalität beibringen will, entsprechend lernfähig sein, als, wie bisher, Rom für jede ungute Entwicklung die Schuld geben.
Ein Bischof, der sagt:“So machen wir es in Zukunft, so ordne ich es an!“, möchte ich noch erleben, bevor ich sterbe.
85 Jahre alt … Radio Vatikan:
Che bello – dass es das in allen Facetten gibt!