„Lesung aus den Brief des Apostel Paulus an die Römer“: ein Satz, den wir immer wieder hören, wenn wir Gottesdienst feiern. Lesungen sind fester Bestandteil unserer Liturgie. Was wir da tun ist ein faszinierendes Ding: die Römer, die den Brief damals bekommen haben, leben ja alle nicht mehr. Stattdessen sind wir alle an ihre Stelle getreten. Durch das Hören der heiligen Schrift bildet sich die Gemeinde derer, an die sie gerichtet ist. Es ist ein Stück erzählte Identität.
Erzählte Identität
Wer ich bin – meine Identität – ist letztlich narrative Identität, ich erfahre das aus Erzählung, aus Geschichte und Geschichten. Das ist im Alltag nicht anders. Was eine Familie ist, erzählen wir uns, von früher, von den anderen Mitgliedern, von Ereignissen und Erinnerungen. Was eine Nation ist, erzählen wir uns.
Deswegen sind diese Erzählungen wichtig. Und umkämpft, gerade jetzt. In Mode sind negative Identitäten, also Identitäten die sich abgrenzen müssen. Ein Volk wird unterwandert, eine Nation wird abgeschafft oder schafft sich selber ab. Brexit ist ein Beispiel, wie man vorgaukelt, eine angeblich an Europa verlorene Souveränität wieder gewinnen zu wollen.
Negative Identitäten sind giftig, sie verlangen nach Gegenreaktion, nach Rettung, meistens nach einem Held, auf jeden Fall aber nach einem „gegen“.
Giftig
Dahinter liegt ein tiefes Bedürfnis, sonst wären diese negativen Identitäten nicht so stark. Wer wir sind, wird immer weniger selbstverständlich. Es löst sich auf. Die Anonymisierung durch Technik, die Überforderung durch Beschleunigung, die Reduktion von allem auf Konsum und Kauf, die Liste der Faktoren ist lang. Da will man was dagegen halten, was der Identität Stabilität gibt.
Die erzählte Identität gerät dabei ins Hintertreffen. Nicht mehr Umstände, Beziehungen, Erzählungen prägen die Identität, sondern umgekehrt, die Identität soll die Lebensumstände prägen, so jedenfalls wollen es die modern gewordenen negativen Identitäten.
Das hat auch eine katholische Variante: wenn nicht mehr Umstände und Beziehungen Identität prägen, braucht man etwas anderes. Meistens sind dies die Regeln, überhöht als „die Lehre“ bezeichnet.
Überhöhte Lehre
Natürlich lehrt die Kirche. Und es gibt eine Lehre. Aber die Identität als Christ bekomme ich nicht durch ein Lehr-Buch. Wenn ich Christ bin und als Christ lebe, dann hat mein Glaube Konsequenzen. Unser Glaube ist nicht neutral. Und diese Konsequenzen sind beschreibbar und reflektiert, sie stammen aus der Bibel und den 2.000 Jahren der Erfahrung und des Nachdenkens, asu der Tradition. Natürlich gibt es die Lehre der Kirche. Aber Identität gewinne ich nicht von denen. Christliche Identität ist erzählte Identität.
Und deswegen ist auch das Vermitteln dieser Identität, die Weitergabe und der Aufbau von Identität – das was wir Verkünden nennen – mehr erzählen denn einfordern. Wie es Papst Franziskus formuliert: „Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeit aufzudrängen sucht“ (Evangelii Gaudium 35).
Weitergabe und Aufbau von Identität: Verkündigung
Die erzählte Identität der Christen hat immer das Element der Weitergabe, das ist sozusagen Teil der DNA des Christlichen. In Evangelii Gaudium benutzt Papst Franziskus dafür das etwas steife Wort „Evangelisierung“, im Gesamtzusammenhang meint er damit die Weitergabe, die Verkündigung des Glaubens.
„Die gesamte Evangelisierung beruht auf dem Wort, das vernommen, betrachtet, gelebt, gefeiert und bezeugt wird. Die Heilige Schrift ist Quelle der Evangelisierung. Es ist daher notwendig, sich unentwegt durch das Hören des Wortes zu bilden. (…) Das vernommene und – vor allem in der Eucharistie – gefeierte Wort Gottes nährt und kräftigt die Christen innerlich und befähigt sie zu einem echten Zeugnis des Evangeliums im Alltag“ (EG 174).
Ich kann vielleicht eine Identität als Christ negativ aufbauen, in Abgrenzung – Ausgrenzung wie Papst Franziskus es nennen würde – und im Einfordern von Regeln. Das ist aber nicht das, wofür wir stehen. Weitergabe gelingt so nicht. Es ist eine egoistische Identität – wieder mit dem Papst: eine sich selbst umkreisende Identität – die ich so schaffe.
Einsetzungsbericht und Lesungen
Christliche Identität, die missionarisch ist, die verkündend ist und damit dem entspricht, was Jesu Auftrag an uns ist, die entsteht durch Erzählung. Deswegen wird in einer Messfeier auch das Evangelium verlesen, es wird die Geschichte erzählt die uns sagt, wer wir sind.
Und machen wir noch einen Schritt weiter: Die Wandlung selber ist kein magischer Augenblick, mit Brot und dann mit Wein in der Hand spricht der Priester den „Einsetzungsbericht“. Das ist kein dogmatischer Traktat, das ist Erzählung. Und dadurch ändert sich für uns Christen die Identität dessen, was der Priester dort auf den Altar stellt.
Wir glauben, dass diese Erzählungen mehr sind als nur aufgeschriebene Sätze und Reflexionen. Wir glauben, dass die Schrift einen Autor hat, dass sie in Gott selbst fußen, deswegen nennen wir sie das „Wort Gottes“. Unsere erzählte Identität ist also mehr als nur menschlich.
„Und machen wir noch einen Schritt weiter: Die Wandlung selber ist kein magischer Augenblick, mit Brot und dann mit Wein in der Hand spricht der Priester den „Einsetzungsbericht“. Das ist kein dogmatischer Traktat, das ist Erzählung. Und dadurch ändert sich für uns Christen die Identität dessen, was der Priester dort auf den Altar stellt.“
Danke! Das finde ich genial formuliert. Wirklichkeitsveränderung durch Erzählen. Und damit ist auch eine Verbindung zu unseren älteren Geschwistern, den Jüdinnen und Juden, hergestellt. Die haben Wirklichkeitsveränderung durch Erzählungen immer schon im Kern ihres Glaubens gehabt. Wirklichkeitsveränderung durch Erzählen gibt es nicht nur bei der Eucharistie – das gilt bereits im Vorfeld für die Erzählungen von dem unfassbar Ungeheuerlichen, was am dritten Tag nach dem Karfreitag geschah, und wir nur unzulänglich mit dem Wort „Auferstehung“ wiedergeben können.
Generell wollte ich zu diesem Beitrag keinen Kommentar schreiben, aber das „für uns Christen“ muss man nochmal ventilieren.
Ist der Leib und das Blut Christi „wirklich“ der Leib und das Blut Christi oder ist es nur „für uns“ der Leib und das Blut Christi?
Das ist eine Frage, die man nicht im Raum stehen lassen darf.
Wie man nur auf eine so abseitige Frage kommt, wenn man den Text gelesen hat. Verstanden hat der Fragesteller ihn nicht.
Ich habe nicht behauptet, dass ich auf meine Frage eine Antwort habe, aber die Frage nach Identität und Realität ist – gerade im Zeitalter der aufkommenden VR und AR Technologie – keine Frage, die man so schnell vom Tisch wischen kann, wie Sie das gerne hätten.
Wenn man Riten auf die Funktion der Gruppen- und Identitätsbildung reduziert, dann entkernt man sie. Man nimmt Ihnen die Seele.
?
Na gut. Dann fange ich nochmal von vorne an.
Ich habe zu Pater Hagenkords Artikel diesmal keinen Kommentar. Ich finde alles richtig und wichtig.
Einzig und allein die drei Worte, dass sich bei der Erzählung des Einsetzungsberichtes „für uns Christen“ die Identität von Brot und Wein ändert, finde ich nicht richtig.
Denn sie ändert sich nicht nur „für uns Christen“ sonder „wirklich“, durch Christus, nicht durch die Worte des Priesters.
„Denn sie ändert sich nicht nur “für uns Christen” sonder “wirklich”“
Na diese Behauptung müssen Sie aber erst mal beweisen.
„Denn sie ändert sich nicht nur “für uns Christen” sonder “wirklich”, durch Christus, nicht durch die Worte des Priesters.“
Solches aus dem Artikel herauslesen zu wollen, halte ich für schlicht grotesk.
Dass man Glaubensinhalte beweisen muss, ist mir neu.
Und nein, ich habe das nicht aus diesem Text gelesen, ganz im Gegenteil, ich finde, dass der Text es eben nicht richtig darstellt.
Aber wie gesagt, nur drei kleine Worte, so wie die „nur“ des Martin Luther auch nur drei kleine Worte waren …………
Wenn man, wie Sie richtig bemerken Glaubensinhalte nicht beweisen kann. Dann ist Ihre Behauptung eben absurd, dass etwas das wir glauben sich auch für andere objektiv nachprüfbar verändert.
Die drei kleinen Worte sind also sachlich und theologisch und auch sonst wie richtig.
Glaubensinhalte sind eben Glaubensinhalte und keine objektiven Fakten. Die drei Worte verdeutlichen worum es geht. Hier scheiden sich die Geister!
Ich glaube, durch die Beschäftigung mit dem Problem kommen wir einander näher.
Pater Hagenkord hat ja auch nicht geschrieben, die Identität verändert sich NUR für uns Christen, sondern er hat eben geschrieben, sie verändert sich für uns, ohne darauf einzugehen, was für die anderen Menschen IST.
Für mich geht es beim Erzählen von Geschichten auch immer darum, WER die Geschichte erzählt, ob ich ihm VERTRAUE und um den WAHRHEITSGEHALT der Geschichte.
Wenn der Priester den Einsetzungsbericht liest, dann nimmt er Christi Worte in den Mund, und wenn wir nicht glauben, dass das Leib und Blut Christi IST, dann misstrauen wir letzten Endes den Worten Christi. Und wir misstrauen der Fähigkeit Christi, die Wirklichkeit zu ändern.
Letzten Endes misstrauen wir der Lehre von der Auferstehung.
Und wahrscheinlich müssen wir darüber reden, was ein „objektives Faktum“ ist und was „die WIrklichkeit“ ist. Vielleicht hätte ich statt dem Wort „wirklich“ besser das Wort „tatsächlich“ benützt. Aber das sind dann schon Spitzfindigkeiten, über die man länger diskutieren müsste.
Ich beschäftige mich hier mit keinem Problem. Ich habe Sie aif einen Fehler in Ihrer Argumentation hingewiesen.
Ich muss auch keinem Priester vertrauen um die Realpräsenz zu glauben.
Und dass Christus die Wirklichkeit ändern wollte oder will …. wo haben Sie diese These her?
Wir kommen uns nicht näher!
Lieber Eskilcgn,
Ich habe diese Diskussion gestern mit einem guten Freund besprochen, und er meint auch, dass das den Aufwand nicht wert ist. Wir müssten zuerst die Worte „für jemanden“, „real“, „wirkllich“, „Präsenz“, „objektive Tatsache“ usw. definieren, bevor wir hier auf einen grünen Zweig kommen.
Das ist hier nicht der richtige Rahmen.
Er hat auch gemeint, dass das „für uns Christen“ so eine Art Höflichkeitsfloskel sei, weil hier ja auch Nicht-Katholiken den Beitrag lesen.
Also, im Sinne eines friedlichen Miteinander vertagen wir die Diskussion.
Lg
Es geht hier darum ob Glaubensinhalte auch für nicht Glaubende objektive Fakten sein können.
Dem ist nicht so!
All die Begriffe, die Sie anführen sind wunderbare Nebenschauplätze um vom eigentlichen Thema abzulenken. Das sind Ihre Themen nicht meine.
Glaubensinhalte sind Glaubensinhalte. Die Realpräsenz ist kein objektives Faktum .
Eine interessante Debatte. Wenn wir das aus dem Feld des Religiösen heraus bewegen, wird es spannend. Wenn Sie „objektiv“ sagen, meinen Sie „naturwissenschaftlich nachprüfbar“ und damit nicht eines Beweises bedürftig, oder? Das gilt aber auch für andere Dinge in unserem Leben, die nicht „objektiv“ sind, wie Sie es – meines Erachtens – meinen, aber trotzdem „real“. Liebe zum Beispiel. Abgesehen von messbaren emotionalen Zuständen ist die nicht messbar. Und trotzdem real. Ist Liebe deswegen ein Glaubensinhalt?
Ja, genau das meine ich.
Wenn ich mich verliebt habe, ist das für mich eine klare und bestimmende Wirklichkeit. Meine Außenwelt kann diesen Zustand objektiv beschreiben. Sie könnten sagen, wie ich mich verhalte, was ich rede, vielleicht wäre da auch etwas körperlich nachzuweisen. Aber was mein Verliebtsein bedeutet und mit mir macht kann nur „verstehen“ wer selber verliebt war oder ist. Die Liebe ist für mich real. Mein Zustand ist für andere real. Aber die Liebe muss es für andere nicht sein. Auch das Objekt meiner Liebe muss für andere weder real noch nachvollziehbar sein.
Lieber Eskilcgn
Ich habe nie behauptet, dass die sog. Realpräsenz eine objektive Tatsache sei. Ich habe von einer „Wirklichkeit“ bzw. von einer „Tatsache“ gesprochen.
Und das habe ich selbstverständlich aus meiner Sicht geschrieben (aus welcher denn sonst?).
Lg
Also nochmal.
Geschichten und die durch die Erzählungen geformten Gemeinschaften leben davon, dass sie WAHR sind
Wenn wir belogen werden, dann hält die Gemeinschaft nicht sehr lange (siehe zum Beispiel das „tausendjährige Reich“, das gerade einmal ein Jahrzehnt geschafft hat).
Und wer es nicht glaubt, dem kann man mit Jesus sagen: „Kommt und seht“.
„Wenn ich Christ bin und als Christ lebe, dann hat mein Glaube Konsequenzen. Unser Glaube ist nicht neutral.“
Erzählen Sie BITTE das mal der deutschen Politik … und damit einer Politik, die die Freiheit über alles stellt !
Und ich meine hiermit insbes. die politischen Parteien mit dem C zu Beginn ihres Namens ! Und hier wiederum vor allem deren Führungspersönlichkeiten mit Herkunft aus den östlichen Bundesländern …
Immer solche Totalitätsaussagen. Womit stellt die Bundeskanzlerin denn die Freiheit über alles?
Es ist sehr aufschlussreich was Sie da schreiben Pater Hagenkord, denn ich habe mich in der Geschichte von Jesus mehr und mehr mit Maria identifiziert und bin dadurch immer tiefer in ihre Berufung eingestiegen, die sie im Namen, ja von wem auch immer, darstellt.
Mein Leben ist für mich ohne Maria nicht vorstellbar, da sie als tragendes Element für Gott eingetreten ist und damit die Verantwortung übernommen hat, die heute eigentlich jede Mutter übernehme sollte, die die Geburt eines Kindes auf sich nimmt.
Die Weitergabe eines Kindes schöpft mit Gott aus dem Wort, das Er als Mensch bereits verfasst hat. Damit sind im Nachgang Schriften gefordert, die dem Leben diese Würde abverlangen, aus der Jesus erwachsen ist und über seine Geschichte einfließen lässt, was sich mit der Zeit als gelebte Tradition für den Nachwuchs ergibt.
Ich bin überzeugt davon, wenn auch nur ein Paar wie Maria und Josef in diese Welt gesetzt wird, so ist die Geburt Gottes vollzogen und das beruhigt mich persönlich ungemein.
Wenn ich selbst katholisch denke und fühle, so empfange ich immer mehr Menschen, die sich über Gott verbunden haben und an der Freude wachsen, die das mit sich bringt. Es bedeutet Arbeit, doch diese Arbeit befreit von den Alltagssorgen, die sich ohne Arbeit in jedem von uns ausbreiten.