Leseschlüssel zu Evangelii Gaudium, Teil 5 [ein überarbeiteter Vortrag vor den Priestern des Erzbistums München und Freising Mitte Mai]

Das Projekt Franziskus funktioniert nur, wenn es in uns selber funktioniert. Wenn man es verlegt, etwa von der Person in die Institution und wartet, bis dies und das geändert wird, dann wird daraus nichts. Oder in den Worten des Papstes: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln“. Oder: „brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten!“
Zwei Zitate von Papst Franziskus über das, was ich hier ansprechen will: Es geht um diejenigen, die das Projekt der Verkündigung heute in Angriff nehmen. Es geht – um das sperrige Wort zu benutzen – um den Missionar.
Ich könnte Seite nach Seite mit Zitaten anführen: Aus Ansprachen, den Morgenpredigten (vor allem den Morgenpredigten), aus Büchern, Interviews und so weiter. Nur ein einziges Beispiel erlaube ich mir hier, Morgenmesse am vergangenen Donnerstag (8. Mai), also fast noch frisch: „Philippus gehorcht – er folgt dem Ruf des Herrn. Sicher hatte er genug anderes zu tun, die Apostel hatten damals vieles am Hals mit dem Evangelisieren. Aber er lässt alles stehen und liegen und geht. Das zeigt uns, dass man ohne diese Fügsamkeit der Stimme Gottes gegenüber nicht evangelisieren kann. Keiner kann von sich aus Jesus Christus verkünden, höchstens sich selbst. Gott ist es, der ruft! Gott ist es, der Philippus in Bewegung setzt. Und Philippus geht – er ist gehorsam.“
Wahrheit in Begegnung
Es geht also um uns selber. Es geht um den Verkünder, den Prediger, Seelsorger, den Glaubenszeugen, um alle diese, kurz es geht um den Missionar. Den, der den Auftrag – die Mission – Jesu weiter trägt: „Gebt Ihr ihnen zu essen!“, zitiert Franziskus den Herrn.
Ich möchte in diesem Stück einige Elemente destillieren, die mir für das Sprechen über den Missionar – und ich möchte bewusst bei diesem etwas sperrigen Begriff bleiben – in Evangelii Gaudium wichtig erscheinen und Ihnen das als Impuls anbieten. Beginnen möchte ich mit der Wahrheit.
29. August vergangenen Jahres, bei einem Treffen des Papstes mit Jugendlichen: „,Aber Pater, ich habe doch die Wahrheit!‘ [in Predigten baut der Papst gerne fiktive Dialog ein, in denen er sich selber mit „Pater“ ansprechen lässt] Nun, da ist ein Fehler, nicht wahr? Denn die Wahrheit hat man nicht, trägt man nicht mit sich, man begegnet ihr. Es ist Begegnung mit der Wahrheit, die Gott ist, aber man muss sie suchen.“
Ein Aufschrei ging damals durch die Bloggerszene und bei bestimmten italienischen Journalisten: Papst Franziskus definiert den Wahrheitsbegriff um. Es gebe einen Widerspruch zwischen dem Wahrheitsbegriff seiner ersten Enzyklika und diesem Wahrheitsbegriff. Noch einmal der Papst, an anderer Stelle: „Jesus sagt uns im heutigen Evangelium: ‚Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen’ (Joh 16,13). Paulus sagt zu den Athenern nicht: ‚Das ist eine Enzyklopädie der Wahrheit. Lernt das und ihr werdet die Wahrheit besitzen!’. Nein! Die Wahrheit geht in keine Enzyklopädie hinein. Die Wahrheit ist eine Begegnung. Sie ist eine Begegnung mit der höchsten Wahrheit Jesu, der großen Wahrheit. Keiner ist Herr der Wahrheit. Die Wahrheit wird in einer Begegnung empfangen“. Predigt im Gästehaus am Mittwoch der sechsten Osterwoche im vergangenen Jahr.
Man kann jetzt sagen, dass wir nicht an eine Lehre glauben sondern an eine Person, Jesus Christus, und deswegen Begegnung das Zentrum ist und nicht der Buchstabe. Aber Franziskus geht da noch viel weiter und damit sind wir endlich bei unserem Thema und damit sind wir endlich bei dem Text, der uns hier beschäftigen soll: Evangelii Gaudium.

„Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. (..) Aus sich selbst herausgehen, um sich mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut. Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, das bittere Gift der Immanenz zu kosten, und in jeder egoistischen Wahl, die wir treffen, wird die Menschlichkeit den kürzeren ziehen.“ (EG 87)
Element eins: Begegnung
Die Begegnung mit der Wahrheit, von der der Papst spricht, ist unglaublich konkret, ja physisch, körperlich. Sie ist zu sehen jeden Mittwoch, wenn der Papst auf dem Petersplatz umarmt und küsst und anfasst und sich anfassen lässt. Das ist kein „papa buono“, kein universaler Dorfpfarrer, das ist – und das meine ich mit allem Ernst – die Suche dieses Papstes nach Wahrheit, die in der Begegnung mit Menschen liegt. Das ist ein aus-sich-herausgehen, bis hin zur „Versöhnung mit dem Körper der anderen“, wie es an einer anderen Stelle von EG heißt.
Sie haben die Bilder alle im Kopf, die Umarmungen von Menschen mit Behinderung, von einem Menschen, den wir alle mindestens im Kopf „entstellt“ nennen würden. Das ist Wahrheitssuche, denn da ist Jesus Christus.
Das ist das erste Element, das mir beim Sprechen über uns, über die Missionare, wie Franziskus es in Evangelii Gaudium tut, wichtig erscheint.
Ich habe zu Beginn schon einmal die Predigt vom 8. Mai zitiert, hier noch einmal, auch um zu zeigen, wie programmatisch der Text Evangelii Gaudium ist. Er ist kein Einzelstück, sondern die dort zusammen gestellten Gedanken drücken etwas sehr Grundsätzliches aus. Also aus der Predigt.
„Man kann nicht evangelisieren ohne ein Gespräch. Das geht nicht. Denn du musst von da ausgehen, wo die Person steht, die evangelisiert werden soll. Wie wichtig das doch ist! ‚Aber Pater, man verliert soviel Zeit mit so etwas…’ Aber Gott hat noch mehr Zeit bei der Erschaffung der Welt verloren, und er hat sie gut gemacht! Gespräch also. Zeit verlieren mit dem anderen, denn Gott will, dass du diesen Menschen evangelisierst, dass du ihm die Botschaft Jesu bringst. So wie er ist, nicht so, wie er sein sollte – so, wie er jetzt ist!“
Und dann nennt der Papst das – an mehreren Stellen in EG – Mystik. Mystik für uns bedeutet vor allem etwas nicht-Körperliches, etwas Innerliches, etwas zwischen mir und Gott, seelisch, geistlich, abgetötet und asketisch wohlmöglich, jedenfalls irgendwie ZEN und gegenstandslos. Nichts davon bei Franziskus: Mystik ist körperlich, physisch, leiblich und wird dann in dieser Gemeinsamkeit eine „heilige Wallfahrt“.
Element zwei: aus sich selbst heraus gehen
Kern dieser „Mystik“ ist das aus sich selber heraus gehen. Das ist ein Satz, den wir tausendmal aus dem Mund des Papstes hören. Und das ist das zweite Element des an Evangelii Gaudium geschulten Missionars, eben das aus-sich-heraus-Gehen. Ich zitiere ich aus der Predigt des Papstes bei der Chrisam-Messe dieses Jahres:
„Viele berücksichtigen, wenn sie von der Identitätskrise der Priester sprechen, nicht die Tatsache, dass Identität Zugehörigkeit voraussetzt. Es gibt keine Identität – und damit Lebensfreude – ohne aktive und engagierte Zugehörigkeit zum gläubigen Volk Gottes (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 268). Der Priester, der sich einbildet, die priesterliche Identität zu finden, indem er introspektiv in sein Innerstes hinabtaucht, wird dort wohl nichts anderes finden als Zeichen, die auf den „Ausgang“ verweisen: Geh aus dir selbst heraus, geh hinaus und suche Gott in der Anbetung, geh hinaus und gib deinem Volk, was dir anvertraut ist, und dein Volk wird dafür sorgen, dass du spürst und erfährst, wer du bist, wie du heißt, was deine Identität ist, und es wird dir hundertfach Freude verschaffen, wie es der Herr seinen Knechten versprochen hat. Wenn du nicht aus dir herausgehst, wird das Öl ranzig und die Salbung kann keine Frucht bringen. Aus sich herauszugehen verlangt, sich selbst zu entäußern, schließt Armut ein.“
Für mich der Kern der Stelle: Wer wir sind bestimmen nicht wir selbst. Das ist eine Theologie, die der Papst in dieser Form aus Lateinamerika mitbringt. Wer wir als Priester sind erfahren und bekommen wir vom Volk Gottes, in der Begegnung, darin dass ich aus mir heraus gehe. Das ist der Kern aber nicht nur des Priesters, auch wenn es hier auf die Priester gesprochen ist, es ist der Kern des „Missionars“.
Element drei: meinen Namen bekomme ich von anderen
Das ist dann das dritte Element des Verständnisses vom Missionar, seine Identität, seinen Namen, bekommt er vom gläubigen heiligen Volk Gottes, nicht aus sich selbst heraus. Wir als Missionare sind darin Empfangende, wo wir geben. Von Gott – Gnade – und vom Volk – Identität – empfangen wir.
Etwas Wasser in all den Wein: Wenn er aber über Priester schreibt oder auch spricht, dann tut er das meistens negativ. Es gab eine Szene bei einer der Begegnungen des Erzbischofs von Rom mit seinen Priestern, bei der Franziskus vorwurfsvoll gefragt wurde, warum er keine Hilfe für seine Priester sei sondern sie immer nur beschimpfe. Es gibt in Evangelii Gaudium ein ganzes Kapitel dazu: „Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen“ heißt es.
„Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbständigkeit und der Entspannung feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität. Zugleich wird das geistliche Leben mit einigen religiösen Momenten verwechselt, die einen gewissen Trost spenden, aber nicht die Begegnung mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die Leidenschaft für die Evangelisierung nähren.“ (EG 78) Das ist eine harte Sprache, nicht die eines verständnisvollen Seelsorgers sondern die des Propheten und Aufrüttlers.
Franziskus spricht vom Minderwertigkeitskomplex angesichts des medialen Gegenwindes und der Versuchung, die Frohe Botschaft zu verstecken. Oder er spricht von einem Relativismus, der anders sei als der lehrmäßige: „Dieser praktische Relativismus besteht darin, so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben. Es ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an Räume der Macht und des menschlichen Ruhms zu klammern, die man sich auf jede beliebige Weise verschafft, anstatt das Leben für die anderen in der Mission hinzugeben.“ Und dann fügt der Papst an: „Lassen wir uns die missionarische Begeisterung nicht nehmen!“ (EG 80).
Der Papst warnt vor dem „grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags“, in der ihm eigenen Bildsprache spricht er von der „Grabespsychologie, die die Christen allmählich in Mumien für das Museum verwandelt“.
Element vier: Annäherung über die Gewissensrechenschaft
Der Papst analysiert lange diese Versuchungen und die Schwächen und Schattenseiten.
„Unterdessen lädt das Evangelium uns immer ein, das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freude in einem ständigen unmittelbar physischen Kontakt. Der echte Glaube an den Mensch gewordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, vom Dienst, von der Versöhnung mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen.“ (EG 88)
Warum aber das Schwergewicht auf die Schattenseiten? Warum immer wieder das Schimpfen, das Bohren in den Schwächen, das Hinweisen auf das, was nicht gut ist? Weil sich hier das vierte Element vom Sprechen über den Missionar zeigt, wie Evangelii Gaudium es tut. Jesuitisch gesprochen: Es ist eine Anleitung zur Gewissensrechenschaft. Und der Missionar versteht sich selbst besser und kommt näher zum Herrn und zu seinem Auftrag über die Gewissensrechenschaft.
Korruption und Sünde
Ich möchte an dieser Stelle ein Buch anführen, das uns dazu gut helfen kann, es ist eine Schrift, die Kardinal Jorge Mario Bergoglio seinem Erzbistum vorgelegt hat und die eines der Themen behandelt, die seit der Papstwahl immer wieder vorkommen: Die Korruption. Darunter ist nicht der Straftatbestand zu verstehen, das meint nicht die Bestechlichkeit. Es ist auch keine Fundamentalkritik an der römischen Kurie, obwohl das natürlich ein gefundenes Fressen für die Journalisten war und ist. Korruption ist etwas anderes.
Kardinal Bergoglio – bitte gestatten Sie mir diesen Umweg – unterscheidet zwischen Korruption und Sünde. Sünde führt zur Korruption, wenn wir uns gegen sie nicht wehren, aber Sünde kennt noch Hoffnung und Bekehrung und Umkehr. Korruption dagegen nicht. Das ist der Unterschied: Die Perspektive. Weiß ich um meine Schwäche und hoffe ich? Oder tue ich das schon nicht mehr? Bin ich ein Sünder? Ja! Bin ich schon korrupt und akzeptiere ich meine Sünde als Teil der Welt, meiner Welt? Das ist die Frage.
Kardinal Bergoglio beschreibt diese psychologischen Mechanismen ganz im jesuitischen Stil. Wer das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola kennt und seine „Seelen-Mechanik“, dem wird der Sprachstil Bergoglios sehr vertraut vorkommen. Ignatianische Seelenführung hat etwas merkwürdig logisch-rigoristisches. Lesen Sie das Exerzitienbuch und darin die Unterscheidung der Geister, dann finden Sie tiefe Weisheit, verpackt in die wenn-dann Logik mit dem literarischen Charme des Kirchenrechts. So auch Franziskus: Wenn er Korruption erklärt, liest sich das wie der Funktionsplan einer Maschine: Logisch quasi nach Naturgesetzen funktionierend.
Dahinter verbergen sich tiefe Wahrheiten und Einsichten, aber die Sprache ist eben erst einmal apodiktisch und rau. Wunderbar finde ich die Einsicht, dass der Selbstzufriedene, also der der nicht aus sich selbst heraus geht, vom Herrn seiner Welt zum Sklaven wird, und je weiter er Sklave wird desto unzufriedener wird er. Aus der Selbstzufriedenheit wird eine Unzufriedenheit, die übertüncht werden will, aus dem Herr sein wird ein Sklave sein. Wer seinen Hegel gut gelesen hat, wird die Herr-Knecht-Dialektik aus der Phänomenologie des Geistes erkennen: Der Herr wird zum Knecht, weil er abhängig ist davon, Herr zu sein.
Der Korrupte kennt auch keine Brüderlichkeit, sondern nur Komplizen. Auch hier wieder eine der Grundlinien des Denkens des Papstes: Begegnung, auf andere Zugehen, Gemeinschaft, heilige Wallfahrt gegen das Vereinzelte nicht aus sich selbst heraus gehen.
Kardinal Bergoglio zählt in dem Buch all die Dinge auf, die wir viel ausführlicher dann in Evangelii Gaudium finden: Selbstgenügsamkeit, Zurechtlegen eines Selbstbildes, Immanentismus und Spirituelle Weltlichkeit.
Spirituelle Weltlichkeit
Über diese Gewissensrechenschaft, über das Benennen der Schwächen und Schatten, über das darüber Sprechen kommen wir selber an die von mir bereits genannten Elemente heran, und zwar nicht akademisch oder idealistisch, sondern konkret in unserem Leben.
Wie unterscheide ich nun, ob ich nur ein Sünder oder schon korrupt bin? Bergoglio zitiert einen seiner Lieblingsheiligen – damals Seligen – den Patron der Exerzitien und von Papst Franziskus dann im vergangenen Jahr heilig gesprochenen Jesuiten Pierre Favre oder Peter Faber: Um den Zustand einer Seele zu erforschen (jesuitische Seelenmechanik) soll man dieser Seele ein Mehr (magis) vorschlagen, also etwas, was mehr noch als bisher dem Willen Gottes entspricht. Wer sich öffnet und „Ja“ sagt, auch unter Risiko, der hat den Horizont der Hoffnung. Wer sich verschließt und das als Störung empfindet, der steckt schon in der Korruption.
Habe ich also die Hoffnung? Wünsche ich sie mir wenigstens? Oder wenn selbst das nicht, dann gibt es immer noch einen Weg, schließlich haben wir es mit einem Jesuiten zu tun: Habe ich wenigstens den Wunsch nach dem Wunsch? Träume ich davon, einen Traum zu haben? Dann ist alles gut, dann braucht es nur noch die Umkehr.
Zurück zu uns, zurück zu Evangelii Gaudium. Der Hauptgegner des Papstes in seinem apostolischen Schreiben, der all das umfasst, was ich bislang zu skizzieren versucht habe, trägt einen Namen, den der Papst von einem französischen Jesuiten und seinem Denken zur Kirche übernommen hat, in dem kleinen Buch zu Sünde und Korruption wie auch in Evangelii Gaudium. Der Papst spricht selber von dem großen Einfluss, den dieser Theologe auf ihn hatte und hat, es handelt sich um den 1991 verstorbenen Pater Henri de Lubac SJ. Der Begriff, den Lubac verwendet und berühmt gemacht hat, ist der der „spirituellen Weltlichkeit“.
Ich zitiere wieder Evangelii Gaudium: „Wer in diese Weltlichkeit gefallen ist, schaut von oben herab und aus der Ferne, weist die Prophetie der Brüder ab, bringt den, der ihm Fragen stellt, in Misskredit, hebt ständig die Fehler der anderen hervor und ist besessen vom Anschein [Das sind fast wörtlich die Formulierungen aus dem Buch über Korruption und Sünde]. Er hat den Bezugspunkt des Herzens verkrümmt auf den geschlossenen Horizont seiner Immanenz und seiner Interessen, mit der Konsequenz, dass er nicht aus seinen Sünden lernt, noch wirklich offen ist für Vergebung. Es ist eine schreckliche Korruption mit dem Anschein des Guten. Man muss sie vermeiden, indem man die Kirche in Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht, in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission, in den Einsatz für die Armen. Gott befreie uns von einer weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser Leere. Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!“ (EG 97)
Das ist nun der Feind des Missionars, der missionarischen Einstellung, der missionarischen Freude und umgekehrt der Freude des Missionars.
Im Zusammenhang mit der Gewissensrechenschaft hatte ich es bereits erwähnt: Was Franziskus von Missionaren will gibt er nicht als Schablone vor oder als Ideal, sondern das ereignet sich in uns, optimalerweise im Gespräch untereinander. Und so soll dieser Impuls auch nur als Einleitung dienen für das Wirkliche und Wichtige, Ihr Sprechen untereinander.
Wie bei der Begegnung: alles ganz konkret, bei uns selber
Deswegen gebe ich hier auch keine Analyse dessen, wie laut Franziskus ein Missionar auszusehen hat. Das können Sie selber in Evangelii Gaudium sehr gut lesen, etwa im „Brief im Brief“, dem Stück über das Predigen, das erstaunlich lang ist. „Die Homilie ist der Prüfstein, um die Nähe und die Kontaktfähigkeit eines Hirten zu seinem Volk zu beurteilen“ (EG 135)
Den Missionar können Sie selber an Papst Franziskus erkennen, sein Pektorale zeigt den guten Hirten inmitten der Herde.
Sie können es am Papst in seiner vollständigen Angstfreiheit in der Kommunikation sehen, an seiner Freiheit von jeglicher Taktik in der Kommunikation.
Lassen Sie mich kurz den bisherigen Gedankengang noch einmal nachvollziehen:
Begonnen haben wir mit der Wahrheit und der Begegnung, und ich bin fest davon überzeugt, dass der Kern des Denkens und Sprechens des Papstes über den Missionar – wenn wir es positiv verstehen wollen – über Begegnung zu verstehen ist. Dazu gehört das aus sich heraus gehen. Die ersten beiden Elemente. Das dritte Element ist die Zugehörigkeit zum betenden Volk Gottes.
Das vierte die Notwendigkeit einer geistlichen Annäherung über eine Gewissensrechenschaft, alleine und in Gemeinschaft.
„Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des „Aufbruchs“ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet.“ (EG 27) Da sollen wir hin: Eine „ständige Haltung des Aufbruchs“, das ist es, was den Missionar ausmacht, diese „ständige Haltung des Aufbruchs“, getragen vom Traum der Revolutionären Liebe Gottes, von Begegnung und von dem, was außerhalb von mir ist.
Da kommen wir hin, wenn wir das benennen, was uns belastet, individuell für uns selbst und auch in Gemeinschaft. Die Kritik des Papstes ist harsch und hart, aber sie dient dem Aufbrechen, dem Losgehen, all den Verben der Bewegung, die der Papst so liebt.
Es hängt also an uns. Die Franziskus-Revolution funktioniert nur, wenn sie bei uns funktioniert.
Das „Projekt Franziskus“ findet sich auch in manchen Punkten literarisch im Gaukler Pamphalon, von Nikolai Leskow im Jahr 1887 geschrieben, wieder:
http://www.reller-rezensionen.de/belletristik/leskow-der_gaukler_pamphalon.htm
Wer sollen denn die Missionarinnen und die Missionare sein? Ich bin erst 2007 in die Kirche eingetreten und musste sehr bald in tiefter Erschütterung feststellen, dass die Mehrheit der sog. „Gläubigen“ die grundsäzlichen Geheimnisse der katholischen Glaubenswahrheiten, z.B. Realpräsenz und Jungfrauengeburt für Unsinn halten, die Dogmen für irrelevant ansehen und die Heilige Messe , zum besseren Gefallen der „Gläubigen“, zur Unterhaltungsshow mutiert haben. Wer also, frage ich, wer sollen die Missionare sein, die der Heilige Vater sich wünscht?
@Thora Peter – Stahl, in diesem Zusammenhang interessiert mich, ob Sie Konvertitin sind oder von welchem weltanschaulichen Hintergrund her Sie in die katholische Kirche eingetreten sind.
Ich frage das, um Ihre Enttäuschung besser verstehen zu können.
Die katholische Kirche hat, nicht nur aber auch was die Liturgie betrifft, eine lange Entwicklung hinter sich, rund 2000 Jahre.
Ein wesentlicher und wichtiger Schritt in die Moderne war das 2. vatikanische Konzil von 1962 bis 1965, auf dessen Fundament Papst Franziskus und die so genannte Amtskirche fest verankert sind.
Was wissen Sie über dieses Konzil? Mit welchen Vorstellungen und Erwartungen sind Sie in die katholische Kirche eingetreten? normalerweise findet vorher ein Konvertitenunterricht statt.
Liebe Silvia woraus schließen Sie Enttäuschung? Ich lese nur das Sie erschüttert ist wie wenig manche katholische doch über ihren Glauben wissen und wer da Missionar oder Missionarin werden soll. Aber egal ich denke es geht doch in erster Linie mal darum Christus zu den Menschen bringen, das weshalb es Christen gibt und dazu gehört zwar die Liturgie aber nicht nur. So wie ich P. Franziskus verstehe kann das jeder getaufte Mensch der Glaubt, von und mit dem Herzen glaubt. Die können dann auch Missionare sein – Missionare des Glaubens.
Ob die Mission aber Frucht bringt und die Kirche wieder mehr in den Mittelpunkt bringt und Missionare und Priester schafft lasse ich mal dahin gestellt sein. Mission beginnt in den Herzen der Menschen. Vielleicht ist jeder Mensch sein eigener Missionar, seine eigene Missionarin.
Da die Sakramente außer im Notfall nur von Personen mit einer Priesterweihe gespendet werden dürfen, bleiben meines Erachtens Laien vom wirksamen Missionieren, wozu insbesondere nach Mt 28 das Taufen gehört, per se ausgeschlossen (vgl. http://www.codex-iuris-canonici.de/buch4.htm).
Otto, von welcher Kirche gehen Sie denn aus. Jeder Christ verkündet das Evangelium durch sein Leben (oder auch nicht)
Missionieren ist mehr als Sakramente spenden. Taufen dürfen z.B. auch Diakone.
Dann haben wir Hauptamtliche ohne Priesterweihe, nämlich Pastoral – und Gemeinereferenten/innen. Was tun die Ihrer Meinung nach? Sie verkünden auf vielfältige Weise das Evangelium! Was ist mit den Religionslehrern /innen? Sie verkünden den Glauben.
Was ist mit den diversen liturgischen Diensten von ehrenamtlichen Laien? Sie verkünden durch ihren Dienst ihren Glauben an Jesus Christus, Das alles ist Missionieren.
Bereits Getauften verkünden, sprich Bekanntes in Erinnerung rufen, und in der Schule unterrichten ist wohl etwas anderes als Heiden oder Andersgläubige zu missionieren. Und da stellt sich die Frage, warum man nach Mt 28 nicht taufen darf, wenn ein Laie erfolgreich Andersgläubigen die Frohe Botschaft zu eigen gemacht hat. Das ist ja nicht schwierig und bedarf nur etwas Wasser und der Taufformel. Von einem Taufschein oder einem diesbezüglichen religiösem Verwaltungsakt ist bei Mt 28 nicht die Rede.
Herr Otto eine Frage wo genau besteht der Unterschied zwischen getauften und Heiden? Jeder Mensch ob getauft oder nicht hat seinen Weg zum Glauben zu suchen und zu finden. Missionieren heißt den anderen den Glauben weiterzugeben und fängt doch oder sollte in der Familie anfangen. Also ist jeder aufgerufen dazu.
Mission ist „Seelenrettung“; wer getauft ist, dessen Seele ist nach meinem Verständnis grundsätzlich gerettet, braucht also nicht in diesem Sinne missioniert werden. Wenn man allerdings unter Mission alles ehrenhaft Mögliche wie christliche Glaubenserziehung, Verkünden, Vorbild-Sein, Bücher schreiben, Reden halten usw. versteht, dann ist aus dem Wort Mission undifferenzierter Begriff geworden.
Es stimmt schon, es hat ein Verlust von Glaubens Wissen über mindestens 2 Generationen gegeben ausgelöst durch Theologen, die alles in Frage gestellt haben, die aber jetzt durch neuere Forschungen widerlegt werden.(Carsten-Peter Thiede)
Aber der Auftrag zur Mission geht an uns alle. Von nun an sollst du Menschen fischen. Jeder sollte sich abends fragen: habe ich gefischt oder habe ich verjagt?
eigentlich ganz einfach, es kommt weniger auf die Regularien an als darauf die Freude des Evangeliums- das Erlöst sein, im Alltag zu bezeugen.
Was wäre, wenn eines fernen Tages alle Menschen auf der Erdkreis im Netz des Glaubens „gefischt“ wären?
Diesen Film sollten sie sich anschauen, so sieht es aus in Argentinien, und bei uns vielleicht auch bald. Alle getauften sind aufgefordert, wir, ohne Bürokratie! https://t.co/DQjpOyO74n Bitte bis zum Schluß schauen, mir geht es im Film nicht um Franziskus sondern um seine Botschaft!
@KRP: ich stimme Ihnen zu, darin Mission im Herzen des Menschen beginnt. Allerdings denke ich, dass nicht jeder dann sein eigener Missionar ist, sondern das Wort Gottes den Menschen zu erreichen sucht und sich diesem offenbart in dem Maße, wie es das Wort Gottes jeweil für richtig hält. Natürlich haben wir uns dann stets vor Augen zu halten, dass Seine Liebe immer revolutionär sein wird, d.h. immer anders, als wir denken und glauben und es eben wirklich so ist, dass Seine Gedanken nicht unsere Gedanken und unsre Wege nicht Seine Wege sind….Gott eben immer der ganz andere ist. Fürwahr ist es immer ein steter Aufbruch, weswegen wir dem sog. „Außenstehenden“ nicht „nur“ begegnen sollen, sondern
dieses „Außen“ auch in uns hineinlassen sollen, weil eben Gott immer der ganz Andere und somit irgendwie ein „Außenstehender“ ist……….: Gott insoweit immer Der ist, der außerhalb von mir ist, weil immer anders und neu, was „mich“ der hier zitierten „Selbstbewahrung“ überführt und offenbart, um wen es „mir“ wirklich geht…
Wie geht Ihr Ganz-Andere mit dem cusanischen Nicht-Anderen zusammen? http://www.hoye.de/cus/nonaliud.pdf
Es liegt an uns selbst unser Anderssein gegenüber Gott zu überwinden, darin eben der Mensch wieder umkehrt zu dessen ursprünglichen Wahrheit hin. Mit dem von Ihnen zitierten “ cusanischen Nicht-Anderen“ hat dies nichts zu tun.
…..so dass wir sogar sagen können, dass nicht „alles an uns liegt“, sondern eben:
es liegt alles in uns (selbst). Das aber erkennt schon ein Johannes, in dem er schrreibt, dass die Salbung, die wir von Ihm empfangen haben uns alles lehrt und die eben wahr und keine Lüge ist…(1.Joh. 2,27)
Toller Artikel!
Wirklich spannend geschrieben und sehr informativ!
Macht weiter so!