Es ist gar nicht so einfach, auf dem Stand der Dinge zu bleiben, was die Literatur zu Papst Franziskus angeht. Jeder will verstehen und wissen und der Buchmarkt hat fast im Wochentakt ein neues Buch zu verzeichnen, von ihm, über ihn, eine Biografie, ein Buch zu seinen Ideen, zu seinem Führungsstil etc.
Wenn der Staub sich etwas gesetzt hat, dann wird man sehen, welches Buch die Lektüre wert war. Im Augenblick versuche ich nur, den Überblick zu behalten.
Favoriten habe ich aber schon. Im Augenblick ist das ein Buch von Jorge Bergoglio selbst, nicht über ihn. Mit knapp 80 Seiten ist es angenehm dünn.
Es geht um die Selbstanklage, so auch der Titel. Bergoglio hatte einen Text über einen Kirchenvater geschrieben, über Dorotheus von Gaza. Zuerst war der für die Ordensausbildung gedacht, dann hatte er ihn 2005 noch einmal für sein Bistum veröffentlicht. In diesem Text nimmt er Ausgang von einem uns mittlerweile von Papst Franziskus vertrauten Thema: Dem bösen Reden über andere. Wir nähmen Zuflucht bei den Fehlern der anderen und würden sie heraus posaunen, weil wir uns dann besser fühlten. Das zerstöre dann die Einheit unter den Menschen, die Beziehungen und Bindungen. Ein Thema, das er als Papst schon mehrfach sehr deutlich angesprochen hat.
Mit dem Thema ist etwas angesprochen, was einen festen Stellenwert in der Spiritualität des Ignatius von Loyola hat. Wir benennen es mit dem Wort ,Examen‘, auch wenn das nichts mit dem zu tun hat, was man an Universitäten und Schulen tut. Examen ist vielmehr der Tagesrückblick, bei dem es um ein ehrliches Schauen auf das eigene Leben und das Erkennen des Handelns Gottes in ihm geht.
Selbstanklage ist nun ein geistliches Handeln, das den Argwohn anderen gegenüber schwächt. Sie hat mit Demut zu tun und damit, nicht immer alles beim anderen zu suchen. Sie ist durchaus so zu verstehen, wie sie genannt ist, „Anklage“, da ist keine weiche Version gewünscht.
Sie hat aber auch nichts mit einem anderen Thema zu tun, das Ignatius von Loyola umgetrieben hat und das Bergoglio in seinem Buch nicht behandelt: Dem Skrupel, sozusagen der anderen Wegmarke, wenn man es mit dem Selbstanklagen übertreibt. Aber das ist noch einmal ein anderes Thema.
Dieser sehr kurze Text zeigt, wie Bergoglio und jetzt Papst Franziskus geistlich vorgeht, um Probleme zu lösen. Ganz in der Tradition des Ignatius geht der dem auf den Grund, was uns antreibt, was uns hindert und was uns in unserem Leben mit Gott und den anderen fördert. Ein lohnender Text, der uns den Papst viel mehr verstehen lässt, als viele dicke Bücher das können.
Sagen Sie mal, Pater, das ist ja doch ein sehr spannendes Thema! Leider kann hier niemand eine Kommentar – zumindest nicht für heute – abgeben, da wahrscheinlich niemand das fulminante Büchli gelesen hat. (Naja, ich hab’ es mir heute jedenfalls bestellt; kostet nur 10 Euro… das geht ja noch). Ich schreib’ sicher noch etwas an dieser Stelle dazu… aber eben erst in ein paar Tagen… und das wird eine ellenlange Rezension werden… da hab’ ich total Lust drauf! 🙂
Mmhh: Aber jetzt will ich noch etwas wissen, etwas zum Textabschnitt: “bei dem es auf ein ehrliches Schauen auf das eigene Leben und das Erkennen des Handelns Gottes in ihm geht.”
So: Wie genau weiß man denn, dass man da nicht auf dem totalen Holzweg rumdümpelt? Wie definieren denn die Jesuiten “Wahrheit” und “Erkenntnis”?
Wär’s da nicht gut/besser, jeden Tag einen Beichtvater heranzuziehen?
Gelobt seien die bitterbösen Weiber! Vielleicht gehört ihnen das Himmelreich.
Ein Beispiel: Sokrates war mit Xantippe verheiratet. Und wir wissen alle, wie bösartigartig diese Frau war, nicht wahr?
Sie war so bösartig, dass er sich die meiste Zeit auf den Straßen Athens herumtreiben musste… und das Fazit: Er wurde einer der klügsten Männer der Welt. Denn von ihm stammte der Satz: “Ich weiß, dass ich nichts weiß.”
Gelobt seien die bösartigen Weiber!
Danke, Herr Pater Hagenkord, für den Buchtipp! Vielleicht lohnt es sich gelegentlich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dem ebenfalls nur 80 Seiten dünnen Büchlein “Lob der unverstellten Wirklichkeit” von Horst Wassmund zu finden – ein Favorit von mir.
Das Buch ist sehr zu empfehlen. Es besteht aus drei in etwa gleich langen Teilen, die jeweils nicht länger als ein mittlerer Zeitschriftenaufsatz sind und sich relativ zügig lesen lassen. Der (1984 entstandene) Meditationstext von Bergoglio ist eigentlich nur ein kleiner Aufsatz und wird gerahmt von einer Einleitung von P. Michael Sievernich (einem bekannten deutschen Jesuitentheologen), der gut verständlich in den geschichtlichen und spirituellen Hintergrund einführt, und den Originaltext der “Anleitung zur Selbstanklage” eines spätantiken Mönchs aus dem hl. Land (Dorotheus von Gaza, gest. 565), auf den sich Bergoglios Überlegungen beziehen. Beide fremdsprachigen Texte (also der span. von Bergoglio und der grch. des Mönchs) wurden von hervorragenden Übersetzerinnen ganz ausgezeichnet ins Deutsche übertragen (die bisherigen Übersetzungen der Papstbücher fand ich nicht immer so doll, sie waren auch alle mit heißer Nadel gestrickt).
Das Buch ist geeignet für alle, die eine gewisse Ader für spirituelle und zwischenmenschliche Verhältnisse mitbringen. Wer begreifen möchte, was der Papst mit seiner häufig wiederholten Mahnung, nicht schlecht voneinander zu reden, eigentlich meint (ein auch für den innerkirchlichen Dialog m.E. zentrales Thema), auch wer bis jetzt vllt. nicht allzu viel damit anfangen konnte oder es für eher banal hielt, könnte hier die tatsächliche Seele Bergoglios entdecken und zugleich etwas für sich selbst und über andere lernen. Auch, wer noch kein Buch von Jorge Bergoglio zur Hand genommen hat, findet hier einen guten Einstieg.
An zweiter Stelle würde ich das Gesprächsbuch mit dem Rabbiner Abraham Skorka empfehlen (span. “Sobre el cielo y la tierra”, dt. “Über Himmel und Erde”), das sich ebenfalls gut als Einstieg eignet. Es enthält Gespräche über unterschiedlichste religiöse, kirchliche und gesellschaftliche Themen und Problemfelder und bietet einen guten Überblick über die Denk- und Herangehensweise des Papstes bzgl. der Fragen unserer Zeit. Viele der darin enthaltenen Aussagen sind übrigens mittlerweile auch in den Äußerungen des Papstes während seines Pontifikats wiedergekehrt.
Das Buch stellt an einzelnen Stellen stärker auf die argentinischen Verhältnisse ab als die übrigen Bücher des Papstes, das sollte aber niemanden abschrecken. Interesse an der politisch-gesellschaftlichen Lage in Lateinamerika ist sicher ein Vorteil, aber kein Muss für die Lektüre. Die allermeisten Gedanken und Dialoge erschließen sich auch ohne solche Vorkenntnisse problemlos.
Das Buch ist besonders auch deswegen empfehlenswert, weil es die besonders innige Beziehung des Papstes zum Judentum illustriert und den Begriff der “religiösen Erfahrung” verständlich macht, der den Einstellungen des Papstes nicht nur zum interreligiösen Dialog, sondern auch zum Gespräch mit Kirchenfernen und zur Ökumene zugrunde liegt.