Frank Schirrmacher ist tot. Ein freier Denker und Schreiber, ein intelligenter und witziger Mann. Leider bin ich ihm nur einmal live begegnet, aber gelesen habe ich ihn gerne. Und diese eine Begegnung war etwas Besonderes, bis heute.
Es ging um eines seiner Themen, um Egoismus – Thema eines Buches von ihm – und die Frage, wie sehr Maschinen und Algorithmen unser Denken, unsere Wirtschaft und unser Tun mittlerweile bestimmen.
Er beschreibt die Mathematisierung unserer Welt: Alles wird erfasst, berechnet und ökonomiesiert. Amazon weiß, was ich bei Google gesucht habe und schlägt mir Bücher zum Thema vor; das Netz gibt vor zu wissen, was für mich gut wäre.
Schirrmacher fügt ein Beispiel an, das ich hier bringen will, weil mich das Thema Journalismus schon aus Eigeninteresse nicht loslässt. Auch hier würde die Dominanz der Algorithmen langsam zugreifen, sagt Schirrmacher.
Das Interview möchte ich an dieser Stelle noch einmal veröffentlichen, meinen Hut ziehend und mich vor einem freien klugen Denker verneigend.
„Aus sich selbst herausgehen“: Es ist eines der zentralen Themen, die Papst Franziskus immer und immer wieder für Christen einfordert; alles andere führe zum Egoismus. Was dieser Egoismus heute bedeutet, das habe ich im Juni 2013 – vor exakt einem Jahr – Frank Schirrmacher gefragt. Er hat gerade ein Buch über die moderne Form des Egoismus geschrieben: „Ego – das Spiel des Lebens.“ Es ist ein kontroverses Werk, aber auch ein nachdenklich stimmendes Buch. Ein Gespräch mit dem Autor über den Wert von Intuition, die Macht des Informationskapitalismus und darüber, was eigentlich Egoismus ist.
„Wir alle reden ja ständig über Egoismus und wir glauben zu wissen, was es ist. Ich will mal sagen, was es in dem Interesse, dem ich gefolgt bin, nicht ist. Mein Buch ist keine moralphilosophische oder moraltheologische Annäherung an das Thema, sondern etwas, wo das Interesse bei mir ausgelöst wurde durch die Finanzkrise und die Art und Weise, wie die handelnden Personen reagiert haben. Was mich interessiert ist ein Egoismus, von dem gesagt wird, dass er ‚rational’ sei. Das eigentlich Neue und Beunruhigende daran finde ich, und das war mir vorher nicht so klar, dass wir uns einer Welt annähern, die das egoistische Eigeninteresse für einen Kern von Rationalität hält. Das ist natürlich eine Form des ökonomischen Denkens aber es geht weit darüber hinaus: Es ist vernünftig, egoistisch zu sein.“
Damit ist das Hauptthema Schirrmachers benannt: Die Behauptung, dass der Egoismus das Zentrum unserer Gesellschaft sei. Zur Präzisierung: Das an sich selber Denken an und für sich ist nicht vollständig schlecht und war schon immer Teil der Gesellschaft. Schirrmacher geht es aber um ein Phänomen, das viel weiter geht und das im Zeitalter der Informationsökonomie und des Informationskapitalismus bestimmend geworden sei.
„Es ist eine Sache, ob Sie eine Welt analysieren und sagen, dass aufgeklärtes Selbstinteresse ein wesentlicher Wert für Gesellschaften ist, oder ob sie eine Gesellschaft danach organisieren, dass sie nur noch nach Selbstinteresse funktioniert. Das eine ist eine Beschreibung von – wie wir ja alle sofort einräumen würden – partiellen Phänomenen innerhalb einer Gesellschaft, das andere ist etwas, was Ausschließlichkeit bedeutet. Ich möchte das kurz erläutern: Wenn Sie zum Beispiel die Theorie haben, jeder ökonomische Agent handelt, was naheliegend ist, nur aus eigenem Interesse und verfolgt dieses Interesse, dann ist das eines. Wenn Sie aber durch digitale Technologien Systeme schaffen, in denen es sozusagen etwas anderes gar nicht mehr gibt, dann ändert sich sehr viel, auch im Denken der Menschen.“
Die These Schirrmachers in der Zusammenfassung: Um das Verhalten von Menschen kalkulieren zu können, habe man Muster entwickelt, die sich mathematisch berechnen lassen. Das sei in Zeiten des Kalten Krieges nützlich gewesen, habe es doch Rationalität ins Denken einziehen lassen. Das Problem: Dieses Denken habe dann auch die Wirtschaft übernommen, alles funktioniert heute nach diesen mathematischen Modellen. Nehmen Sie eine einfache Suche im Internet, Sie suchen etwa einen Urlaubsort. Danach schauen Sie bei einem Buchanbieter nach einem Roman, bekommen aber als Werbung Literatur zu dem Urlaubsort angeboten, nach dem sie davor ganz woanders gesucht hatten. Alles wird in mathematische und digital verwertbare Gleichungen umgesetzt, der Mensch wird so aber nicht nur erfasst, sondern er wird dann auch auf darauf reduziert: Die Maschinen haben Algorithmen, nach denen sie annehmen, was die Nutzer brauchen könnten. Und mehr gibt es dann nicht mehr.
„Wenn Sie davon ausgehen, dass jeder Handelnde in dem System, in dem Sie sich bewegen, nur aus egoistischem Interesse handelt, schaffen Sie die Realität erst, die Sie unterstellen. Das kann ja auch jeder nachvollziehen: Wenn ich Ihnen jetzt – um es zu karikieren – in diesem Gespräch unterstellen würde, dass Sie nur Ihre eigenen Interessen verfolgen, würden Sie das ja auch merken und sich entsprechend verhalten. Das ist auf der Ebene von digitalen Kommunikations- und Marktsystemen mittlerweile so. Es hat eine Verwirklichungsenergie bekommen, es macht das, was es beschreibt.“
Wir schaffen also mit den digitalen mathematisch „denkenden“ Systemen erst die Wirklichkeit, die die Modelle eigentlich nur beschreiben sollten.
„Die aber können gar nicht anders – und das muss man festhalten – als beim anderen ein eindimensionales egoistisches Interesse bei der jeweiligen Transaktion zu unterstellen.“
Der Mensch ist berechenbar geworden, durchökonomisiert, auf seine Verwertbarkeit hin konzentriert. Aber alarmistisch will Schirrmacher das nicht sehen, er moralisiert nicht; sondern er beschreibt.
„Ich schreibe ja keine neue Apokalypse oder so etwas, ich beschreibe etwas, das wie ich glaube im Augenblick im vorbewussten Zustand abläuft. Ich möchte das in drei Bereichen beschreiben, was die Zukunft des Menschen angeht, und das ist eine Debatte, in der die Kirche noch eine sehr große Rolle spielt und spielen wird: Erstens: Die Nutzenoptimierung des Menschen in seinem eigenen individuellen Glücks- und Lustempfinden kennen wir alle, das ist die Debatte um Konsum, Börsen etc. Der zweite Punkt ist die Nutzenoptimierung des Menschen, der von anderen benutzt wird, also dem Arbeitgeber, der analysiert, was er über diesen Menschen herausfinden kann, und dazu wird in den USA zum Beispiel letztlich immer auf eine mathematische Matrix zurück gegriffen. Und drittens: Wir werden in eine Gesellschaft gehen, in der zum Beispiel auf die Frage der Optimierung einer Schilddrüse, denn das wird ja mittlerweile schon künstlich hergestellt, eben dann die Frage kommt, dass man ja ein viel besseres Organ haben könnte. Das heißt, dass es den ganzen Menschen umfasst. Und die Idee dahinter ist nicht nur, dass es sich berechnen lässt, sondern auch hier: Tertium non Datur.“
Eine Alternative gibt es nicht: Diese Mathematisierung lässt andere Perspektiven nicht zu, so Schirrmachers These. Risiken und Unsicherheiten sind nicht mehr Teil des Lebens, sondern sie werden zu Unfällen des Lebens umdefiniert, sind die Systeme doch entstanden, um genau diese Unsicherheiten auszuschließen. Alles und vor allem alle werden berechnet.
„Beispiel sind die voraussagenden Analysen über menschliches Verhalten: Wird er ein Trinker, ein Drogenabhängiger, wird er ein Verbrechen begehen. Das sind Debatten, die jetzt schon von höchster Relevanz sind, wenn Sie sich anschauen, was in den USA gerade debattiert wird. Da gibt es Städte, die bereits dieses System zur Verhaltensvoraussage bei Kriminalität anwenden. Die glauben, dass man das mathematisch voraussagen kann und wir werden es erleben bei Krankenkassen, wo wir – wie ich glaube – gar keinen moralisch sicheren Standpunkt mehr haben.“
Darf also eine Krankenkasse Daten aus Genanalysen erheben, um Gewinn zu optimieren und Risiken zu minimieren? Das wäre eine mögliche Anschlussfrage. Doch auch andere Bereiche sind betroffen, so Schirrmacher:
„Meine These ist, dass der nächste große Markt, der nach diesen Modellen automatisiert wird, der Journalismus ist. So erkläre ich mir auch die Skandalisierungswellen, die immer kürzer werden. Man kann ganz banal sagen, dass man das automatisieren kann: Das wird am meisten geklickt und bringt mir am meisten Geld und befriedigt das egoistische Interesse des Einzelnen am ehesten, nämlich das nach Skandalisierung und so weiter.“
Das hat Folgen: Wenn wir uns in einer uns prägenden Gesellschaft und Ökonomie bewegen, werden die Dinge gefördert, die in das System passen. Andere Dinge werden vernachlässigt, fürchtet Schirrmacher, nämlich
„Dass wir verlernen, was wir Generationen lang für selbstverständlich hielten, das wird uns gerade abtrainiert, nämlich Intuition. Intuition ist hier nur ein Begriff für all das, was Menschsein bedeutet, also Kreativität und Unberechenbarkeit, aber auch dieses Gefühl für das, was richtig und was falsch ist. Ich würde aus der Literatur kommend sagen: Die innere Stimme. Wenn es so ist, dass in der digitalen Welt, die ja zum Teil nur wenigen Mächtigen gehört, uns viel Arbeit abgenommen wird – und das wird ja immer mehr passieren – dann müssen wir endlich erkennen, dass es jetzt nicht mehr so wichtig ist, positives Wissen anzuhäufen, sondern dass es wichtiger ist, unsere Energie etwa in den Schulen auf die Dinge zu richten, die wir gerade verlernen und die wir bisher nie für gefährdet gesehen haben. Dazu zählt intuitives Verhalten – das kann man nämlich lernen und zwar nur von Menschen. Früher hätte man auch Menschenkenntnis gesagt. Dazu gehören auch die berühmten Daumen-Regeln. Das sind alles Dinge, die ganz wichtig sind, die wir aber nur durch einen anderen Menschen lernen können.“
Was ist dann der Gegenentwurf, wie sähe eine Idee unserer Gesellschaft aus, die keine mathematische Formel ist?
„Ich möchte das so beantworten: Der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts ist ein Mensch, der im Inneren der Maschine ist, was auch die Logik der Maschine ist, es ist fast die Fiktion eines Naturgesetzes: Es die Maschine, nicht die Natur, die hier spricht. Was ich gerne möchte ist, dass wir die Luke aufmachen, die Maschine für das benutzen, was sie kann, dass wir aber dafür nicht das, was den Menschen ausmacht opfern. Dazu gehört zum Beispiel die Unberechenbarkeit.“
Und daran schließt sich direkt die Frage an, wie das denn geht, die Luke zu öffnen. Was ist zu tun, was kann und muss ich selber tun?
„Jeder Mensch ist da verschieden. Ich würde mal die Prognose wagen, dass wir da nicht heraus kommen. Einen Weg zurück gibt es sowieso nicht. Ich denke aber schon, dass wir und der Staat erstens ganz banale Sachen machen können. Die ganze Frage Datenschutz zum Beispiel ist auch eine ökonomische Frage. Hochfrequenzhandel kann man beschränken, das wird eine der großen Debatten, auch wenn es wahrscheinlich nicht passieren wird. Solche Sachen gehen.
Der Einzelne braucht erst mal einen Alarmknopf und dieser Alarmknopf ist: Wir neigen dazu, im Alltag unsere Intuition zu verlieren. Ich benutze auch GPS uns so weiter, da braucht man eine Art Selbstbeobachtung. Ich glaube, dass die Rückversicherung von Realität wahnsinnig wichtig wird, wir werden moralische Standards zwar nicht neu definieren müssen, aber wir werden uns der Frage der reinen Nutzenoptimierung und Effizienzoptimierung auch für unser eigenes Leben stellen müssen.
Das heißt, dass wir ständig gegen unsere eigene Schnelligkeit des Urteils opponieren. Die ist in unserem digitalen Zeitalter ziemlich stark vorgegeben. Wir müssen uns entschleunigen und auch den Raum dazu schaffen. Ich sehe da eine ganz große Erziehungsaufgabe. Es wird zu Recht, wie ich finde, debattiert, in Schulen Kontemplation und Meditation als Schulfach einzuführen. Das klingt jetzt alles klein-klein, aber das sind diese ganz wichtigen Schritte.“
Ohne diese Schritte entsteht das Bild des ökonomisierten Menschen, der Anreize – Belohnungen – braucht, um überhaupt noch etwas tun zu können, ein ökonomisch geplanter und gesteuerter Mensch. Und dann kommen Google, Facebook etc. und schlagen mir genau diese Belohnungen vor, sie wissen, was zu tun ist.
„Die Idee, dass Menschen etwas aus sich selber heraus machen, verschwindet immer mehr. Wenn das zusammen trifft mit dem Gedanken ‚Wir wissen schon, was gut für euch ist und was ihr eigentlich wollt’, dann wird mir mulmig. Aber im Kern bin ich totaler Optimist. Wenn wir das positiv gestalten, das heißt wenn wir tatsächlich sagen ‚lasst die Maschinen tun was die Maschinen können’, wenn wir die Finanzmärkte unter Kontrolle bringen und sie nicht maschinell steuern lassen. Das alles ist auch eine Entlastung des Menschen, wenn wir das nutzen für Dinge, die der Mensch kann und die Maschine nicht kann, dann kann das natürlich wunderbar werden. Insofern bin ich da ein totaler Optimist.“
Es gibt keinen wichtigeren Moment als jetzt, guten Journalismus zu machen.
2 Kommentare zu “„Insofern bin ich da ein totaler Optimist“”