Kennen Sie den guten Jesus und den Schurken Christus? Das ist der Titel eines Buches des englischen Autors Philip Pullmann, das Roman zu nennen etwas übertrieben wäre. Erschienen 2010 spielt der Autor mit der Idee, dass Jesus gut gewesen sei, ehrlich und überzeugt, dass aber der ganze Überbau, samt Idee von Kirche und so weiter, von seinem Zwillingsbruder Christus gekommen sei, der auch nach der Kreuzigung seine Rolle übernommen habe. Angeleitet vom Verführer, jedenfalls wird das angedeutet. Es geht um Kirche und Freiheit, so einfach mag ich das zusammen fassen.
Das Ganze ist interessanter geschrieben, als ich das hier skizzenhaft darstellen kann, Jesus Christus – und damit auch die Botschaft und sein Auftrag – wird in zwei Personen zerlegt und die Inhalte werden voneinander getrennt.
Der zerlegte Herr
Das ganze Buch hat zwei Scharniere. Zum einen ist da die Vision des Christus genannten Zwillingsbruders, der sich eine Kirche wünscht, mit Priestern, Regeln, Kultvorschriften und dem ganzen Drum und Dran, das wir heute meistens mit Kirche in Verbindung bringen.
Das zweite Scharnier ist das Schlussgebet des Jesus, im Garten vor der Hinrichtung. Jesus verstummt, weil Gott nicht antwortet und er auch nicht weiß, ob es Gott überhaupt gibt. Zuvor aber reflektiert er die Pläne seines Bruders für eine Kirche und verdammt sie, der Teufel ergreife Besitz vom Menschen, sobald dieser Macht übernehme. Er schimpft auf die Privilegien der wenigen, die die Kirche regieren und so weiter. Die ganze Palette des Schlechten in der Kirche wird Jesus in den Mund gelegt.
Die Kritik kam natürlich prompt, der Autor musste mit Personenschutz zur Buchvorstellung. Aber auch Atheisten waren nicht glücklich, Pullman versuche immerhin Jesus zu retten. Kluge Kritik etwa kam damals, 2010, von dem Theologen Gerard O’Collins.
Großinquisitor, neu aufgelegt
Das Ganze ist natürlich eine literarische Vorstellung, kein wirklicher Umgang mit Geschichte und Bibel. Was mich wiederum gleich zu DEM Text greifen lässt, der das Vorbild für die ganze Gattung ist, Der Großinquisitor von Fjodor Dostojewskij, aus den Gebrüdern Karamasow.
Ein direkter Berührungspunkt zwischen dem „Schurken Christus“ und dem Inquisitor ist etwa das Wunder, das den Glauben ersetzt. Ein zweiter Punkt ist die Freiheit: die wahre Freiheit erlangt der Mensch erst, wenn er der Freiheit entsagt und sich unterwirft, sagt der Großinquisitor. Jesu unbedingte Freiheit überfordere den Menschen, die Kirche hingegen habe die Tat Jesu „verbessert“ (wörtlich so auch im „Schurken Christus“) und auf Autorität gegründet, damit auch erkennbar gemacht für die Menschen, die nicht so stark sind und die Hilfestellungen brauchen.
Die so verstandene Kirche habe Platz für den Schwachen, überfordere ihn nicht. Aber dazu braucht es halt Regeln und Autorität, welche die absolute Freiheit ersetzen, so die „Phantasie“ die Dostojewskij dem Inquisitor in den Mund legt.
Kirche und Freiheit
Beide Erzählungen vereint, dass „Kirche“ etwas Anderes will, als Jesus gewollt habe.
Warum mache ich das hier so ausführlich? Weil es ein wunderbares Beispiel für Kirchenkritik ist, wie sie in den Köpfen vieler Leute steckt und mir immer wieder begegnet. Und weil es um das Thema geht, dass wie kein anderes ethische, moralische, gesellschaftliche Fragen durchzieht, auch wenn es nicht aus gesprochen wird. Das Thema Freiheit. Und mit Literatur macht es einfach mehr Spaß.
Mein Problem mit dieser Art Kirchenkritik ist, dass Kirche nicht mehr kritisierbar wird. Klingt wie ein Widerspruch, ist in meinen Augen aber keiner. Die Kirche wird im literarischen Trick insgesamt zu einer Verfälschung der Botschaft Jesu. Das Sündhafte in der Kirchengeschickte wird so dem Guten gleichgestellt, Sünden und Schlimmes und Falsches wird nicht mehr identifizierbar, weil ja alles gleich falsch ist. Das Sündhafte wird in den Grund der Kirche hinein gelesen.
Damit wird die Erzählung sowas wie eine umgedrehte Prophetie. Es gibt keine Freiheit mehr, weil ja alles falsch ist, es ist egal, was man tut oder nicht.
Echte Geschichte hingegen hilft uns dabei, das Sündhafte, das Falsche, die Irrwege und Irrtümer zu identifizieren. Weit mehr, als es eine Generalverdammung je sein könnte. Dann kann man sich die Regeln vornehmen und schauen, wie sie und ob sie hilfreich sind oder nicht. Oder vielleicht sogar ein „Weg der Freiheit“, wie der Papst sagt. Dann wird echte Kritik möglich.
Freiheit überfordert
Zweitens zum Thema Freiheit: Religion will Menschen kontrollieren, weil sie alleine von der Freiheit überfordert seien, das sei die Grundhaltung der Kirchen-Oberen. Allein die Abschaffung aller dieser Beschränkungen, das sich verlassen auf die menschliche Freiheit, könne Glück schaffen, so lautet die Gegenvision. In der Geistesgeschichte der Kirche nennt man diese Haltung Pelagianismus.
Der Trick bei Pullman ist, das Erzählen selbst zum Teil des in sich verfälschenden Systems zu machen, wir können also noch nicht einmal auf die Bibel schauen, denn die ist bereits Teil der Kirche. Nur eine völlige Ablehnung schaffe die Freiheit, sich den Ideen dieses Jesus zu nähern. Damit fällt die Frage nach Sünde völlig weg. Das Gute und das Schlechte wird ununterscheidbar, alles wird in der Geschichte beliebig. Ist das Freiheit?
Freiheit überfordert uns nicht, das ist die christliche Antwort. Aber sie hat Konsequenzen. Eine frei und vor Gott getroffene Entscheidung führt zu etwas. Hinterlässt etwas. Beliebigkeit ist keine Freiheit.
Beliebigkeit ist keine Freiheit
Eine Konsequenz zum Beispiel ist, dass die Weitergabe des Glaubens Gemeinschaft schafft. Ohne diese Gemeinschaft wiederum gibt es keine Weitergabe, die beiden gehören zusammen. Das nennen wir Kirche. Ohne diese Kirche kann es gar keinen Glauben geben, keine Tradition. Und das Gleiche gilt auch für nichtkirchliche Bereiche.
Es sei ein Schurke, wer Gemeinschaft schaffen wolle, das lese ich beim oben genannten Buch. Aber genau das ist falsch. Freiheit ohne Gemeinschaft ist ohne Sinn. Und auch religiöse Freiheit, meine eigene Freiheit vor Gott und den Menschen, macht ohne Gemeinschaft keinen Sinn.
Fast automatisch hören wir bei dem Wort „Kirche” Einschränkung, Regeln, Moral. Vielleicht müssen wir uns noch mal hinsetzen und nachdenken, was Kirche auch sein kann. Was Kirche sein soll. Nämlich Raum für die Freiheit des Glaubens.
Wie passend zum heutigen Fest, dass uns Möglichkeit und Ziel des Menschseins vor und mit Gott aufzeigt. Danke!
Mir fallen zu dieser Interpretation ein paar Predigten/Erzählungen INDISCHER katholischer Priester ein, die aus Gründen des bekannten Priestermangels nach Mitteleuropa versetzt wurden.
Zuerst sind diese indischen Katholiken sehr stolz, dass jeder bei uns weiß, es gibt eine uralte Kirche vor allem im Süden des Subkontinents, die historisch sehr fundiert auf dem Apostel THOMAS aufbaut.
Thomas, der Zwilling. Was heißt sein Beiname wirklich (Strapazieren wir nicht Judas I., dann wird es noch schwerer).
Eventuell in diesem Kontext sind die indischen Theologen wohl schon länger in der Behandlung von Verschwörungstheorien etc. geübt und bringen das irgendwie sehr trocken auf den Punkt, meine Wahrnehmung.
Also sie mahnen da zur Vorsicht, ist so eine Geschichte mit der Freiheit. Am Ende kann man dann die Inkarnation und die Auferstehung auch nur “symbolisch” verstehen, in der protestantischen Theologie und in den Freikirchen gibt es da ja durchaus Ansätze. Wie mit der Geburt durch die Jungfrau Maria.
So gibt es eine bekannte Christentum-Kritik (der Hindus), der junge Jesus war doch lange in Ägypten, dort waren die besten Magierschulen der Antike. Viele seiner Wunder könne man mit solchen “Tricks” erklären, vor allem wenn Personen “getauscht” werden. Und überhaupt kann das ein guter Hindu-Guru heute genauso. So ungefähr.
Man sieht, da wird es schwer mit der Freiheit. Die Kirche muss da klar lehren. Sonst gleitet man ab in Beliebigkeit oder … Gotteslästerung. Und so wie ich das immer verstand, kann man eben den Kern des Christentums nicht ohne Altem Testament erfassen.
Eine Stelle aus so einer wunderbaren Predigt eines indischen Priesters, ich versuche das halbwegs sinnerhaltend zu rezitieren. Ist aber nicht so schwer.
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“Eine sehr fromme Nonne stirbt wohlvorbereitet in Gottesvertrauen auf die christliche Auferstehung. Ihr Weg zum Himmel ist kurz. Sie ist fast überrascht, dass es so schnell geht, in ihrer Demut will sie sich lieber sammeln und wird misstrauisch. Da wird zudem der Teufel extrem eifersüchtig auf die Nonne und boshaft und macht einen seiner schlimmsten Versuchungen. Der Nonne erscheint eine helle Gestalt, geht ihr entgegen und sieht aus wie Jesus, wie der Herr oft auf Erden dargestellt wird. Die Gestalt ist jedoch zu “gelackt” und die Nonne wird skeptisch. Sie fragt nach kurzem Innehalten ganz trocken: ZEIG MIR DEINE WUNDEN der Kreuzigung.
Das kann diese Figur nicht!!!!!
Und sie zerfällt in einen Dämon”. Die Nonne läßt sich also nicht lumpen. Und ist sogar froh, dass sie sich noch länger auf den Himmel vorbereiten kann.
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Es gab in München vor einigen Jahrzehnten mal einen sehr berüchtigten Streit um eine moderne sehr abstrakte zeitgenössische Darstellung “zeig mir Deine Wunden”. Ich meine, das ist noch immer eines der wichtigsten Objekte im Lenbach-Haus. Der Streit hat sich gelegt. Ist aber ähnlich dem Roman, meine ich.
Interessante Auseinandersetzung.
“Der Trick bei Pullman ist, das Erzählen selbst zum Teil des in sich verfälschenden Systems zu machen, wir können also noch nicht einmal auf die Bibel schauen, denn die ist bereits Teil der Kirche. Nur eine völlige Ablehnung schaffe die Freiheit, sich den Ideen dieses Jesus zu nähern.”
Ich frage mich, wozu man darüber lange Bücher schreiben muss.
Geht doch auch in einem Satz von vier Zeilen:
Nach der Kreuzigung haben Fanatiker zu der Lebensgeschichte Jesu und seinen Lehren so viel bis zur Unkenntlichkeit dazu gedichtet, z.b. die Auferstehung, dass man mit dem Herzen die “guten” Lehren Jesu von den “schlechten” dazugedichteten Lehren unterscheiden muss, woraufhin man letztere verwirft und sich nur nach ersteren richtet.
Wozu ein Buch drüber schreiben?
Der Fehler ist natürlich meiner Ansicht nach, dass man dann “Jesus” lediglich als Marke/Etikett zum Autoritätsgewinn gebraucht; denn auf die Methode wird man ja zwingend sowieso nur den Lehren folgen, die das eigene Herz sowieso schon angenommen hat; man pappt dann lediglich noch “Jesus” drauf, um sich selbst besser zu fühlen, statt ehrlich dazu zu stehen, dass man halt dieses oder jenes richtig oder falsch findet.
Und ich vermute mal, dass selbst wenn Pullman recht hätte und Jesus nur ein einfacher menschlicher Wanderprediger gewesen wäre, dass auch dieser Jesus den Ansatz [Wir haben zwar nur die verfälschten Lehren von Jesus, lesen aber mit unseren Herzen genau das rein, was uns passt, und berufen uns dann auf Jesus] abgelehnt hätte. Denn selbst bei einem solchen rein menschlichen Wanderprediger Jesus deuten die überlieferten Texte daraufhin, dass der es abgelehnt hätte, Schriften/Lehren als Gemischtwarenladen zu betrachten, in denen man das mitnimmt, was einem gerade passt.
“Die Kritik kam natürlich prompt, der Autor musste mit Personenschutz zur Buchvorstellung.”
Sind Sie sich hinsichtlich “musste” sicher?
https://www.reuters.com/article/us-pullman-christianity/pullman-risks-christian-anger-with-jesus-novel-idUSTRE62R1L120100328
“Pullman, who has received angry letters from people accusing him of blasphemy even before the short novel hits the shelves, was accompanied by security guards to the Oxford event to publicize his book.”
Da Blasphemievorwürfe von Christen – wenigstens in den letzten Jahrzehnten – nur selten zu körperlichen Angriffen führten, sehe ich nicht ganz warum ein Autor wegen ein paar wütender Briefe – es wird ja nicht mal gesagt, dass die Briefe Drohungen enthielten – Personenschutz haben “muss”.
Ich erwähne das, da es meinem Eindruck nach einige Atheisten selbst und auch manche sympathisierende Journalisten das muntere Spielchen treiben, ganz bewusst negative Reaktionen auf Religionskritik von christlicher Seite quasi auf eine Ebene mit negativen Reaktionen auf Religionskritik hinsichtlich einer anderen Religion zu bringen/stellen.
Deswegen habe ich bei solchen Behauptungen eher Skepsis.
Ich schreibe so was nicht nur einfach so. Und dass es immer wieder auch zu Gewalt kommt – von allen Seiten – ist auch nicht neu. Es reicht ja auch ein Irrer, um wirklich Schaden anzurichten.
Was Sie hier machen, ohne Genaues zu wissen, ist schlicht den Beweis umkehren. Sie sähen Misstrauen und auf einmal muss sich jemand, der sich bedroht fühlt oder weiß, rechtfertigen. “Sind Sie sich hinsichtlich “musste” sicher?” hat nur die Funktion, Misstrauen zu sähen.