Leseschlüssel zu Evangelii Gaudium, Teil 4
Abweichend vom bisherigen Prozedere heute ein etwas anderer Zugang zum Text, ausgelöst von einem aktuellen Anlass: Der Papst hat an diesem Donnerstag während der Chrisam-Messe über die „Freude des Priesters“ oder die „priesterliche Freude“ gepredigt. Und abgesehen vom Wort „Freude“, was allein schon Grund gibt, sind mir während meiner live-Übertragung einige Dinge aufgefallen, die für ein Verstehen des Textes interessant sein können.
Der Papst predigt über das Priestertum, so viel vorweg. Gewarnt sei vor einer zu schnellen Lektüre, das mag einigen – und vor allem in unseren Sprachspielen geschulten – Ohren etwas naiv erscheinen, eine Pastorale sozusagen, wenn nicht sogar weltfremd. Deswegen meine Warnung: Man kann dieser Meditation – und so würde ich den Text nennen – nur dann etwas abgewinnen, wenn man sie nicht für eine soziologische Beschreibung oder eine Norm hält. Für unsere Ohren klingt das alles etwas sehr fromm. Aber nicht vergessen: Wir haben schließlich einen Papst vom Ende der Welt, da muss nicht alles mitteleuropäisch klingen.
Aber wenn man den Schritt in diesen Text hinein wagt und sich nicht von den uns fremd klingenden Formulierungen abschrecken lässt, dann findet man in dem Text einen Dreh- und Angelpunkt, der auch für die Lektüre von Evangelii Gaudium zentral ist, auch wenn er dort nicht sofort ins Auge springt: Die Zentralität dessen, was der Papst in der Predigt das „heilige gläubige Volk Gottes“ nennt.
Glübig und heilig und der Dreh- und Angelpunkt: Das Volk
Wenn wir über die Verkündigung sprechen, dann ist die Kirche das Subjekt, und zwar verstanden als die „Gesamtheit des evangelisierenden Gottesvolkes“ (EG 17). Das ist nicht abstrakt gemeint, als theologische Aussage, sondern damit meint der Papst in den Worten der Predigt die „Kirche mit Vor- und Nachnamen“, konkrete Menschen, diejenigen, die gerade um mich herum sind. Wenn wir Evangelii Gaudium lesen, scheint es vor allem an den Leser oder die Leserin, und deswegen vor allem an Einzelpersonen gerichtet. In den ersten Teilen meines Versuchs eines Leseschlüssels habe ich ja auch betont, wie wichtig es ist, das Geschrieben auf sich selbst und nicht auf andere zu beziehen. Es geht dem Papst um persönliche Reflexion.
Darüber darf man aber nicht vergessen, dass das Volk Gottes, heilig und gläubig, immer der Bezugspunkt ist und bleibt.
Das wird deutlich, wenn der Papst in EG 28 davon spricht, dass eine Pfarrei dann fehl geht, wenn sie sich von anderen löst oder in ihr „Gruppen von Auserwählten“ bestehen. Das wird vor allem deutlich, wenn Franziskus über den Glauben und die Kultur spricht und dabei auf die Volksfrömmigkeit zu sprechen bekommt, auf die Würde des Betens und Feierns der Gläubigen (EG 90, 92). Vor allem wird das aber auch in der Vorstellung deutlich, die sich in meinen Augen immer mehr als eine der zentralen Textstellen herausstellt:
„Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt.“ (EG 87)
Gesprochen hin auf die Welt der Kommunikation geht es hier aber auch um die „heilige Wallfahrt“ und der Papst bezieht das Wort „Mystik“ ein, das Gemeinsame der Gottsuche und des Verkündens bekommt also einen ganz besonderen Stellenwert.
Lesen wir EG 120: „Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre.“ Soweit passt das bestens zu dem, was der Papst in der Predigt zur Chrisam-Messe gesagt hat, Priestertum (wenn wir die übrigen Aufgaben, die sicherlich in EG auch gemeint sind, an dieser Stelle einmal auslassen) lässt sich nur von der Gemeinde her verstehen. Jeder und jede ist Träger der Verkündigung, das Priestertum mit seiner besonderen Sendung und Salbung nimmt davon nichts weg.
Und dann etwas später spricht der Papst von den Charismen, den Gaben, die Einzelne oder Gruppen dann als Getaufte in die Verkündigung einbringen und er schreibt:
„Ein deutliches Zeichen für die Echtheit eines Charismas ist seine Kirchlichkeit, seine Fähigkeit, sich harmonisch in das Leben des heiligen Gottesvolkes einzufügen zum Wohl aller. Eine authentische vom Geist erweckte Neuheit hat es nicht nötig, einen Schatten auf andere Spiritualitäten und Gaben zu werfen, um sich durchzusetzen. Je mehr ein Charisma seinen Blick auf den Kern des Evangeliums richtet, um so kirchlicher wird seine Ausübung sein. Auch wenn es Mühe kostet: Die Gemeinschaft ist der Ort, wo ein Charisma sich als echt und geheimnisvoll fruchtbar erweist.“ (EG 130)
Charismen zeigen sich in Gemeinschaft
Und um klar zu machen, dass auch das nicht abstrakt gemeint ist, sagt der Papst noch etwas weiter: „Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen. Der Inhalt der Erstverkündigung hat eine unmittelbare sittliche Auswirkung, deren Kern die Liebe ist.“ (EG 177) Gott hat auch die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen erlöst heißt es dann mit Bezug auf die Soziallehre eine Nummer später.
Die Sprache ist auch hier nicht einfach, in den Predigten bei den Morgenmessen und auch zur Christam-Messe ist es die Sprache von Herde und Schafen und Hirten und so weiter, die zwar zutiefst biblisch ist, in unserer Gesellschaft ist das Sprechen von Gläubigen als Schafen eher hinderlich.
Trotzdem müssen wir da durch, auch wenn es nicht passt, das Bild von der Herde will erschlossen werden, sonst bleibt uns dieses Denken verschlossen oder wir legen es vorschnell auf den Stapel all der Dinge, die wir eh nicht Ernst nehmen wollen.
Identität bekommen wir von der Gemeinschaft her
Zurück zum Anlass meiner Überlegungen, zu den Gedanken des Papstes in der Predigt zur Chrisam-Messe über die Priester:
„Viele berücksichtigen, wenn sie von der Identitätskrise der Priester sprechen, nicht die Tatsache, dass Identität Zugehörigkeit voraussetzt. Es gibt keine Identität – und damit Lebensfreude – ohne aktive und engagierte Zugehörigkeit zum gläubigen Volk Gottes (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 268). Der Priester, der sich einbildet, die priesterliche Identität zu finden, indem er introspektiv in sein Innerstes hinabtaucht, wird dort wohl nichts anderes finden als Zeichen, die auf den „Ausgang“ verweisen: Geh aus dir selbst heraus, geh hinaus und suche Gott in der Anbetung, geh hinaus und gib deinem Volk, was dir anvertraut ist, und dein Volk wird dafür sorgen, dass du spürst und erfährst, wer du bist, wie du heißt, was deine Identität ist, und es wird dir hundertfach Freude verschaffen, wie es der Herr seinen Knechten versprochen hat. Wenn du nicht aus dir herausgehst, wird das Öl ranzig und die Salbung kann keine Frucht bringen. Aus sich herauszugehen verlangt, sich selbst zu entäußern, schließt Armut ein.“
Hier sagt der Papst es über die Priester, aber das ist dem Anlass geschuldet, es ist ein Grundgedanke, der den Überlegungen von Evangelii Gaudium zu Grunde liegt: Man kann den Dienst und sein Christsein und seine eigene Verkündigung nur in Bezug auf das gläubige Volk Gottes und von ihm her verstehen.
In der Predigt, nur um noch einen anderen Winkel zu wählen, spricht er auch über ‚Treue’. Interessanterweise lässt er das Wort ‚Keuchheit’ hier aus, obwohl die anderen beiden Begriffe, Armut und Gehorsam, genau das vermuten lassen. Aber der Papst will keine Debatte über Zölibat und Keuschheit, er will auch diese Ganzhingabe verstanden wissen von der Gemeinde her, nicht vom Individuum des Priesters her. Und dann lautet der Begriff eben ‚Treue’.
Von der Gemeinschaft, dem Volk, her verstanden
Von sich aus, aus sich allein heraus, kann man nicht leben: „Wenn hingegen einer die Pflicht auf der einen Seite und die Privatsphäre auf der anderen Seite voneinander trennt, dann wird alles grau, und er wird ständig Anerkennung suchen oder seine eigenen Bedürfnisse verteidigen. So wird er aufhören, „Volk“ zu sein.“ (EG 273) Wir sollen Volk sein, sonst kann man die Freude der Evangelisierung nicht teilen.
An dieser Stelle müsste jetzt eine biblische Betrachtung über das Volk folgen. Es müsste gesagt werden, dass Volk mehr ist als Gemeinschaft, weil dazu das Gerufen-Sein und Auserwählt-Sein durch Gott gehört. Wir müssten sagen, dass Gott sein Volk erlöst hat, nicht eine Ansammlung von Individuen. Aber das würde zu weit führen, an dieser Stelle nur so viel: Ohne das Verstehen des Rufes Gottes an ein Volk, nicht an ein Individuum, lässt sich auch unser Text Evangelii Gaudium nicht verstehen. Von daher ist der Papst mit seinen Gedanken in bester Gesellschaft.
Ich glaube die Gemeinsamkeit zwischen dem Volk und einer Person aus dem Volk liegt im Sinn um die Freude aus eigener Erkenntnis eine möglichst große Fruchtbarkeit zu erzeugen, die für das Leben einen unermesslichen Ertrag bringen kann. Dabei darf man den Wunsch nach einer möglichst großen Beteiligung an diesem Projekt für die Menschheit nicht aus den Augen verlieren.
Diese Einstellung zum Nächsten wächst am Wissen um seine Würde aus dem Herzen Gottes, das im Wesen teilt, was alle nur erdenklichen Möglichkeiten in der sie begreifenden Einheit zu erfassen vermag, um damit die Lösungen zu fördern, die sich aus gesunder Substanz in Zeit ergeben.
Die Dimension dieser Worte aus gesunder Substanz in ihrem gesamten Spektrum zu begreifen, heißt als Menschheit vor Gott in der Einheit nach Gott zu suchen, was den Menschen wirklich zum Menschen macht und dieser Heiligkeit zu danken. Durch den Papst vertreten, begrenzt auf den Zugang zu seinen Worten, steht Wissen unendlich zur Verfügung und muss nur angemessen seiner Anforderungen verteilt werden.
Aus diesem Wissen um die fehlende Dimension des Begreifens einer Teilhaftigkeit menschlicher Ressourcen legt Gott mit der Kirche den Schutzmantel der Würde über die Einheit durch den Herrn, um mit Ihm all die Lösungen zu erzeugen, die sich aus dem Herz ergeben dessen gesunde Substanz in Liebe zu dem gemeinsamen Geist einen Widerstand erzeugt, der sich in Einheit mit Würde in Zeit auf Person ergibt.
Was man wohl im allgemeinsen Gebrauch das Beten um göttlichen Beistand nennt liegt in der Hoffnung auf den Gehalt der eigenen Annahmen, der von Gott getragen den größtmöglichen Nutzen erzielt.