Die lutherische Gemeinde Roms hat eine wunderbare Tradition: Zum Gottesdienst am Reformationstag lädt sie immer einen katholischen Priester ein, zu predigen. In diesem Jahr hatte ich – an diesem Sonntag – diese Ehre.
Liebe Schwestern und Brüder,
herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Tag, herzlichen Dank dafür, dass Sie mich eingeladen haben, zu sprechen. Zuerst ist für mich dies hier eine Gelegenheit zu lernen. Ihre Kirche hat eine eigene Leseordnung und die sieht den Propheten Jesaja für heute vor. Textauswahl ist ja immer eine Art Selbstaussage, und so lese ich das Buch Jesaja, das Kapitel 62, auch als eine Art Reflexion über die Art und Weise, wie Sie über Reformation nachdenken. Immerhin geht es auch dort um re-formare von Jerusalem, um Wiederaufbau, wenn ich das etwas lose übersetzen darf.
Wir Katholiken halten uns an den Satz „ecclesia semper reformanda“, die Kirche ist immer eine zu erneuernde, ein Grundtenor des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aber auch dieser Satz stammt aber von Ihnen, aus der protestantischen Tradition. An dieser Stelle also ein Dank für diese Hilfestellung für uns.
Wir alle sprechen von reformare, lesen wir also Jesaja mit dem Blick der Reformation:
Um Zions willen will ich nicht schweigen, und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten, bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und sein Heil brenne wie eine Fackel, dass die Heiden sehen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des Herrn Mund nennen wird. Und du wirst sein eine schöne Krone in der Hand des Herrn und ein königlicher Reif in der Hand deines Gottes. [Jes 62, die ersten Verse, Übersetzung Luther 1984]
Es ist ein etwas verwirrender Text, wie ich finde. Zumindest hinterlässt er etwas Verwirrung bei mir, wenn ich vom reinen denken und studieren weg ins Betrachten oder Meditieren gehe. Und bei dieser Verwirrung geht es vor allem um Zeit.
Erinnerung und Prophetie
Es geht erst einmal um ein Gestern, um die Geschichte des Volkes Israel, um Vertreibung und Exil, um Wiederaufbau und Hoffnung.
Gleichzeitig ist die Sprache aber auch die Sprache der Prophetie, und die richtet sich immer auf ein Morgen, auf ein noch-nicht. Wir glauben – und dass sich der Text in unserer heiligen Schrift findet beweist es – dass das letzte Wort hier noch nicht gesagt ist, dass wir die Verheißung nicht in der Vergangenheit abstellen können, dass sie noch gilt, auch für uns.
Wir sind also zwischen gestern und morgen, zwischen ‚war’ und ‚noch nicht’. Und wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist, ist das ja auch die Bedeutung von Reformation: Zurück, „re-“, aber immer mit dem Blick nach vorne, nicht in der Vergangenheit gefangen.
Bevor ich die Verwirrung aber nun endgültig glätte mit Pastoralsprache von einer „lebendigen Spannung“ oder dergleichen, möchte ich doch lieber zum Text zurück kommen. Da ist etwas ‚her’, da ist etwas passiert, da blickt ein Prophet zurück, oder besser: Da spricht ein Prophet aus einem gestern, aus – vielleicht verklärten – Erinnerungen heraus. Da ist etwas lang her, also geschehen, früher, Tatsache aber nur noch in Erinnerung oder Tradition oder Sehnsucht präsent.
Blicken wir ins Gestern, auf das, was hinter dem prophetischen Sprecher Jesaja liegt: Da ist Not. Israel lebt nicht mehr in der Fremde, sondern ist zurück gekehrt, aber vom Aufbruch, von der Zuversicht der Vergangenheit, alles werde wieder gut, ist keine Spur mehr. Da müssen immer noch viele Steine und Trümmer aus dem Weg geräumt werden, da muss noch viel Ungerechtigkeit weg.
Erinnerung an das Ergebnis menschlicher Überheblichkeit
Israel hatte sich stark gefühlt, hatte Könige gehabt, Armeen, und es hatte geglaubt, eine Großmacht sein zu können. Hybris. Man kümmerte sich nicht mehr um Recht und Gerechtigkeit und um die Gebote schon gar nicht. Man war blind für das Unheil, was man heraufbeschwören würde. Und dann die Katastrophe, verteilt über Jahrhunderte: Exil, Zerstörung. Jetzt ist man zurück im Land, das in Trümmern liegt, Menschen auf der Flucht, Familien durcheinander, alles im Chaos.
Für Jesaja wäre es leicht gewesen, ein Buch zu schreiben mit dem Tenor „das habe ich euch doch gleich gesagt!“ Viele hatten damals gewarnt, andere Propheten, Mahner. Aber Jesaja begnügt sich jetzt nicht mit Schuldzuweisungen an andere. Oder besser: Die Schuldzuweisungen wird es auch gegeben haben, man hielt es aber nicht für Wert, diese zu überliefern. Stattdessen überlieferte man – zusammengestellt in einem Buch, dass wir Jesaja nennen – diese Sätze. Man wartet. Man hofft. Man hat Sehnsucht.
Und das ist das Zweite, nach dem Blick in das Gestern: Da wird etwas sein, später, irgendwann, in der Zukunft. Die Sehnsucht geht nach vorne, in ein noch-nicht, eine Hoffnung, eine Erwartung, einen Traum. Der Prophet spricht zu uns von Sehnsucht und Verheißung, und er tut es nicht nur in zivilisatorischen Worten über Stadt und Land, sondern auch ganz persönlich:
Man soll dich nicht mehr nennen ‚Verlassene’ und dein Land nicht mehr ‚Einsame’, sondern du sollst heißen ‚Meine Lust’ und dein Land ‚Liebe Frau’; denn der Herr hat Lust an dir, und dein Land hat einen lieben Mann. Denn wie ein junger Mann eine Jungfrau freit, so wird dich dein Erbauer freien, und wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen.
Freude, freien, Lust, Braut, Mann, Liebe, da wird es sehr persönlich, da geht es nicht mehr nur um das Volk, da geht es gleich einmal um alles.
Die Abwesenheit des Zentrums unseres Glaubens
Aber treffen tut uns diese Sehnsucht und diese Verheißung in einem Moment des „nicht“. Das, was uns da verheißen wird, gibt es nicht, das ist ja der Sinn von Prophetie. Wir haben etwas nicht mehr und wir haben es noch nicht.
Dieser Moment des „nicht-Habens“ ist für uns Christen der Normalzustand. Wir haben etwas nicht mehr, oder besser: Wir haben jemanden nicht mehr: Jesus. Und wir haben jemanden noch nicht, ebenfalls: Jesus.
Das erste nennen wir Himmelfahrt. Es war der Moment, wo die Erfahrung der Begegnung mit Christus, auch mit dem Auferstandenen Christus, endete. Keine Berührung mehr, kein Legen von Händen in die Seite, kein Essen mit ihm, kein Hören auf ihn. Das ist vorbei.
Aber: Diese Himmelfahrt ermöglicht auch erst etwas. Ohne Himmelfahrt kein Pfingsten, oder in den Worten Jesu: Es ist gut für euch, dass ich jetzt gehe. Wenn Jesus heute noch hier wäre, würden Sie mir nicht zuhören, dann würden wir alle gemeinsam Jesus zuhören. Dann gäbe es keine Apostel oder Jünger, keine Sendung, kein Zeugnis, keine Weitergabe des Glaubens, dann gäbe es keinen Gottesdienst, keine Theologie. Wir alle würden direkt Jesus zuhören.
Seine Abwesenheit ermöglicht also erst all die Dinge, die ich gerade genannt habe. Sie ermöglicht unser Tun, unseren Glauben, unser Handeln aus dem Glauben. Sie ermöglicht Zeugnis und Verkündigung, die Schrift, all das, was wir mit dem Heiligen Geist durch die Jahrhunderte weiterreichen. Sie ermöglicht unsere Verantwortung, unsere Anstrengung, unsere Kreativität im Glauben, unsere Antwort auf Gottes Ruf und die Übernahme der Weitergabe. Seine Abwesenheit bringt uns erst ins Spiel.
Es ist gut für euch, dass ich jetzt gehe
Und: Der Mangel, die leere Mitte unseres Glaubens, die Abwesenheit Jesu Christi schafft auch erst den Raum für die Verheißung und das Versprechen, Rückkehr, für die Vollendung seines Reiches.
Und das alles kommt von Gott her, Gott ist bei Jesaja der Aufbauende, der Handelnde, der Versammelnde. Und auch unsere „Reformation“, unser Handeln aus dem Glauben, empfängt sich von Gott her, ist Geschenk. Wenn wir nur auf uns selber bauen, dann bleibt alles Stückwerk. Wenn wir uns von der Sehnsucht anziehen lassen, vom Traum und vom Versprechen, dann handelt da bereits Gott in uns.
Große Worte sind das alles, aber ohne die können wir unseren Glauben gar nicht denken. Ohne Sehnsucht und Verheißung wären wir in der Gegenwart gefangen, wären wir zufrieden mit uns selbst und würden gar nicht mehr die Notwendigkeit sehen, etwas zu ändern oder besser zu werden, mehr zu werden. Jesu Abwesenheit und die Sehnsucht nach seinem Kommen ermöglicht in uns erst die Verschiedenheiten des Glaubens, auch die Probleme, auch die Trennungen, aber auch den Mut, die eigene Antwort, die eigenen Versuche und Schritte auf Gott zu. Es ist ein Risiko, weil wir Menschen sind. Und deswegen braucht es auch immer wieder Reformation, Veränderung, Besinnung zurück und Blick nach vorne, als Einzelner, als Gemeinschaft, als Kirche.
Ohne die Verheißung, ohne den Blick auf Gott, der auf uns zukommt, würden wir uns selbst als die Mitte sehen. Erst das sich ausstrecken nach dem, was noch nicht ist, erst das macht uns zu Glaubenden, Hoffenden, Liebenden.
Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen ‚Heiliges Volk’, ‚Erlöste des Herrn’, und dich wird man nennen ‚Gesuchte’ und ‚Nicht mehr verlassene Stadt’.
rotestanten leugnen fast jedes Dogma der Kirche. Und verlieren noch mehr Kirchenmitglieder als die katholische Kirche.
Wäre es nicht vielleicht doch einmal angebracht, das “Pastorlkonzil” aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zu hinterfragen und die Pastoral umzustellen?
Die Menschen stösst eine kalte, leere, geldgierige, sinnentleerte, diesseitige phrasendreschende Wohlfahrtsorganisation (Ökumene, Dialog, Liebe, Friede) einfach nur noch ab.
Aber Rom scheint sich blind, taub und tot zu stellen.
Warum nur? Wacht doch einmal auf!
Weder Atheisten, noch Muslime, noch Protestanten interessieren sich für Dialog mit der Kirche. In welcher Welt lebt man eigentlich in Rom? In der Zwischenzeit verliert man immer mehr Mitglieder.
Schon erstaunlich, wenn es nicht so traurig wäre.
Weil hier keiner lobt, was gelobt werden muss, mach ich das mal.
Das ist eine sehr gelungene Predigt (wohl auch zu einem sehr schwierigen Thema… wenn ich das recht verstehe: dem himmlischen Jerusalem bzw. dem Weg hin zu diesem/dem Aufbau desselben)!
In Bezug auf den homophilen Thomas Mann hat – ich glaube Marcel Reich-Ranicki bzw. Herr Karasek – mal etwas sehr Treffliches gesagt, was hier ganz gut passt… also sinngemäß: Thomas Mann hätte die sehnsüchtige (also nicht erfüllte) Liebe im “Tod von Venedig” deshalb so grandios schildern können, weil diese für ihn in realiter tatsächlich immer nur Vorstellung/Idee bleiben musste. Er diese also mehr oder weniger auf ein unerreichbares Podest gestellt hätte. Die Sehnsucht des Menschen nach echter Liebe kann wohl nur ein Wesen wirklich stillen: Gott.
Viele Stellen in Ihrer Predigt sind wunderschön durchdacht und formuliert, Pater, und bzw. aber auch sehr kompliziert (auf alle kann man hier leider nicht eingehen). Sehr ansprechend finde ich etwa die Aussage, dass der Moment des “Nicht-Habens” (von Jesus) für uns Christen der Normalzustand ist”. So etwas wunderbar Fragiles/ Ungreifbares wie der Glaube existiere nur deshalb, weil Jesus eben nicht zugegen sei.
Wenn Jesus also heute noch da wäre und wir ihm alle zuhören könnten, wären wir extrem träge – und (Sie schreiben das ja auch) unkreativ – im eigenen Denken. Weiter schreiben Sie, dass gerade das Nicht-Besitzen (also ein Mangel an etwas) den Menschen dazu veranlasse, sich zu verändern und zu bessern. Ich glaube Sartre hat das mal ähnlich ausgedrückt.
Also, lieber Herr Gonzales, glauben Sie denn wirklich nicht daran, dass sich Menschen oder auch Institutionen ändern können? Wenn dem so ist, dann sind Sie tatsächlich im Hier und Jetzt gefangen. Schade! Es gibt doch immer Hoffnung!