Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. So lehrte Frère Roger. Man muss also kein Exeget sein, es lohnt sich die Bibel selber in die Hand zu nehmen und nicht auf die nächste Sonntagspredigt zu warten.
Das kann aber zum Abenteuer werden, wenn wir Bibellektüren begegnen, die so ganz und gar nicht das sind, was wir zu hören gewohnt sind.
Nehmen wir den barmherzigen Samariter, tausend Mal gehört, tausend Mal bepredigt. Intuitiv ist klar, was hier passiert.
Umso erstaunter war ich, als mir die Tage eine ganz andere Interpretation in die Hände fiel, ich gebe sie hier anonymisiert weiter [der Text ist Teil einer Email]:
Auch wurde wieder [bei einer Veranstaltung] das Gleichnis vom
„Barmherzigen Samariter” missbraucht:
Die Hilfsverpflichtung auf Grund der Verpflichtung zur christlichen Nächstenliebe betrifft nur einzelne Christen und nur in Bezug auf die situationsbedingt ihnen räumlich Nächsten und ist immer freiwillig; auch der Samariter im Beispiel Jesu hat nur räumlich nah geholfen, räumlich nah Herberge bezahlt, er konnte dies finanziell und er hat die Nächstenliebe freiwillig getan. Er hat den Überfallenen nicht mit nach Hause genommen, seine ganze Familie ebenfalls nicht zu sich eingeladen, dem Herbergswirt nicht gesagt, er solle alle nächsten Überfallenen sicher zu ihm nach Haus transportieren lassen, er würde alles bezahlen, er würde für alle und alle Nachkommen bis an das Lebensende aufkommen und allen die Möglichkeit der ganzheitlichen Entwicklung (Definition? das verstehe ich nur im Zusammenhang der Entwicklung von Kindern zu Erwachsenen) gewähren, und er hat auch nicht andere gezwungen, alles zu bezahlen; das alles hat er nicht gesagt und auch nicht getan.
Nun mag ich das aber nicht als interessengeleitete Lektüre abtun. Wir sollen ja das vom Evangelium leben, was wir verstanden haben, und hier ist jemand, der etwas versteht, was vielleicht den Exegeten verwundert.
Weisen, die Bibel zu lesen
Man kann die Bibel ganz verschieden betrachten. Die Bibelwissenschaft kennt zum Beispiel die so genannte historisch-kritische Methode, also den Versuch, historische Zusammenhänge, literarische Vorbilder, sprachliche Prägungen und dergleichen zu entdecken. Man rekonstruiert den Text historisch und erkennt so Sinn und Aussage. Der Vorteil: auch 3.000 Jahre alte Texte aus dem Alten Testament behalten ihren Charakter als alte Texte, werden trotzdem nachvollziehbar.
Eine andere Methode: die kanonische Bibelauslegung. Einzelne Bibeltexte werden mit anderen Bibeltexten in Zusammenhang gesehen, das historische Umfeld spielt eine eher untergeordnete Rolle.
Was ich verstanden habe
Eine dritte Methode habe ich beim Studium im angelsächsischen Raum kennen gelernt, die „reader-response-theory“, die danach fragt, was für Wirkungen Texte beim Leser haben, welche Rezeptions-Prozesse bereits in der Struktur des Textes angelegt sind.
Das alles muss es nicht in Reinkultur geben, meistens bedient man sich aller Werkzeuge. Benedikt XVI. zum Beispiel kombinierte gerne die ersten beiden Methoden, bei Franziskus findet man gerne auch die dritte von mir genannte Methode.
Was die von mir zitierte Email tut, ist aber weniger Exegese, sondern Eisegese, wie die Fachleute das nennen, also etwas in einen Text hinein lesen.
In den Text hinein gelesen
Was erzählt das Evangelium denn? Lukas 10 berichtet von einer Frage an Jesus, nämlich „was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Wie sieht gelungenes Christsein aus, könnten wir heute fragen. Die Antwort Jesu ist ein Gebot (siehe: kanonische Bibelauslegung, Gebotstext aufschlagen und beides zusammen lesen). Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe gehören zusammen.
Dem Fragesteller fällt sehr richtig auf, dass der Knackpunkt „der Nächste“ ist. Was uns zur Debatte heute führt: um wen soll ich mich kümmern? Weiterlesen “Barmherziger Samariter, revisited”