„Die Realität ist in Wirklichkeit ganz anders“: Ein Satz meines ersten Geschichtsprofessors, der bei uns Studierenden regelmäßig für Gelächter gesorgt hat. Lachen über den Witz, aber auch Lachen über uns selbst.
Der Satz ist aber weise. Weil er den Finger darauf legt, dass wir unsere eigenen Realitäten haben, die von Tatsachen nicht immer gedeckt sind. Und damit meine ich noch gar nicht diejenigen, die George Soros oder Bill Gates hinter allem vermuten, die von einer angeblichen Weltregierung raunen, oder die hinter allen kirchlichen Debatten eine Zerstörung der Kirche vermuten. Damit meine ich erst einmal uns alle.
Die Realität ist in Wirklichkeit ganz anders
Der Philosoph Immanuel Kant warnt uns, dass die Wahrnehmung uns täuschen kann, erst durch die Vernunft gelangen wir Richtung Wirklichkeit. Also erst wenn wir lernen, uns selbst zu hinterfragen. Kurz formuliert: Denken hilft.
Aber wir tun das Gegenteil. Die Normalität verliert, stattdessen begegnen mir immer mehr Sonderwelten. Jeder und jede hat zu allem was gelesen und baut sich die eigene Weltsicht zusammen. Jedenfalls begegnet mir das immer mehr in den öffentlichen Debatten, auch und gerade in der Kirche. Die Wirklichkeit kommt uns abhanden.
Es regieren die Sonderwelten
Was daran ärgerlich ist, ist vor allem die Unangreifbarkeit. Dass man sich Meinungen bildet ist ja geschenkt, und dass man dabei Fehler macht auch. Das macht jeder und jede. Aber dass man auch angesichts von widersprechenden Argumenten oder Zahlen lieber dabei bleibt statt sich zu korrigieren – und das als Lernen positiv wahrzunehmen – das ist zunehmend ärgerlich. Und es nervt.
Papst Franziskus nannte das mal „Formen von Verschleierung von Wirklichkeit“ (Evangelii Gaudium 231). Heraus kommen die ganzen „-ismen“, die er da auch gleich mal aufzählt. Psychologisch mag das aller erklärbar sein, aber ab einem gewissen Punkt mag ich nicht mehr erklären oder verstehen oder verständnisvoll sein. Sondern will widersprechen. Oder selber mal was lernen. Was nicht immer ganz einfach ist.
Es nervt
Die Schrift sagt uns: „Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der Jesus Christus bekennt als im Fleisch gekommen, ist aus Gott“ (1 Joh 4:2). Das ist die Stelle, die auch der Papst zum Thema Wirklichkeit zitiert. Der Kern des Christlichen, der Geist, liegt eben nicht in Überzeugungen und Weltbildern. In Sätzen und Büchern. In Bekenntnissen und Interpretationen. Sondern in der Wirklichkeit.
In den Worten eines Bischofs: „Gott liebt uns durch die Wirklichkeit kann ich da nur drüber schreiben. Diese Wirklichkeit anzunehmen und trotzdem nüchtern zu bleiben und sehen, wo wir jetzt gemeinsame Schritte finden können, ist eine große Herausforderung, der wir uns jetzt deutlich zu stellen haben.“
Fliehen ist feige. Sich Scheuklappen aufsetzen verkennt sie. Sich ihr stellen ist anstrengend. Aber der Geist will uns genau dahin führen.