„Da stelle mer uns mal janz dumm…“; Um Penälern das Funktionieren einer Dampfmaschine zu erklären, fängt man ganz vorne an. Erklären beim Unwissen zu beginnen, ist ein gutes pädagogisches Mittel. Schritt für Schritt und ganz einfach baue ich die Einzelteile zusammen, die ich so für das Ding brauche, was ich da erkläre.
Was aber, wenn wir alle schon meinen zu wissen, was das ist? Also nicht die Dampfmaschine, sondern zum Beispiel das Thema dieses Kirchenjahres, die Barmherzigkeit? Irgendwie vermuten wir ja, das zu kennen oder zu wissen, was das ist.
Dankenswerterweise erscheint gerade jede Menge Reflexion zum Thema. Ohne meinen Stuhl zu drehen sehe ich auf meinem Schreibtisch alleine religionspädagogische Materialien, die Zeitschrift „Communio”, mehrere Bücher, Auszüge und Kopien von Artikeln die ich immer noch mal lesen wollte und so weiter.
Die wichtigste Aussage dazu kommt für mich aber vom Papst selber, der uns das Nachdenken dazu ja aufgegeben hat. Und zwar spricht er vom Tun, von den so genannten Werken der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist nicht so sehr eine Haltung, als mehr ein Verhalten. Oder besser: beides zusammen.
Vor einiger Zeit hatte ich in der Zeitung „Der Falter” einen Artikel dazu, ich war angefragt worden. Dreizehn Menschen – vom Falter netterweise „Experten” genannt – schrieben über Europas größte Katastrophe, und dazu war auch ich geladen. Meine Perspektive auf die Barmherzigkeit kommt da von der anderen Seite, von der Frage nach der Verantwortung. Weil wir eben nicht über Barmherzigkeit sprechen können – oder theologisch verantwortet sprechen dürfen – ohne praktisch zu werden.
Wer trägt für das Sterben im Mittelmeer Verantwortung?
„Kain, wo ist dein Bruder?“ Gottes Frage im Buch Genesis lässt den Menschen etwas entdecken, was grundmenschlich ist, weil es grundgöttlich ist, nämlich die Verantwortung. Wir sind nicht als Einzelwesen geschaffen, perfekt nur dann wenn wir uns um uns selbst drehen. Wir sind als Menschen geschaffen, alle „Brüder und Schwestern“, wie wir es in Familiensprache ausdrücken. Daraus erwächst die Verantwortung füreinander. Die Frage Gottes nach dem Mord Kains an Abel wird im Kopf Kains – und unserem als Leser der Geschichte – zu einem Vorwurf, weil Kain um die Verantwortung und damit Schuld weiß, die er auf sich genommen hat.
Papst Franziskus hat den großen Feind dieser Verantwortung ausgemacht: Die Gleichgültigkeit. Oder noch präziser: eine globalisierte Gleichgültigkeit. Wie er es bei einer Predigt in Lampedusa 2013 ausgedrückt hat: Auf dem Meer sterben Tausende und wir trauern noch nicht einmal mehr. Uns geht das irgendwie nichts an. Wir lassen es nicht an uns heran. Zig-tausende Kinder verschwinden auf der Flucht, jährlich, ohne dass jemand weiß, wo sie landen. Menschen landen in Sklaverei, werden auf ihrer Flucht buchstäblich gekauft und verkauft, erpresst, und wir sorgen uns nicht.
Wir sind nicht in Völkern und Nationen geschaffen, wie es einige neu-Rechte Politiker in theologischer Verwirrung meinen. Wir sind eine Menschheit, über die Kontinente und durch die Jahrhunderte hindurch.
Wir hier im reichen Europa drehen um uns selbst, wollen das „Eigene“ gegen das „Fremde“ schützen, schön zu sehen an Wahlergebnissen über den ganzen Kontinent hinweg. Aber dabei übersehen wir, dass wir als Kinder Gottes Verantwortung tragen.
Die große Gleichgültigkeit vergiftet uns. Der Gegenentwurf dazu ist die Barmherzigkeit, die auch dann gilt, wenn ich an einer Situation gar nicht Schuld trage. Die Bibel ist bis zu den Deckeln voll von Geschichten von Jesu Barmherzigkeit: Der Vater, der seinen Sohn zurück nimmt, der Samariter, der alles Mögliche tut, um einen ihm völlig Unbekannten zu helfen und so weiter. Barmherzigkeit hilft, weil sie es kann, nicht weil sie es muss. Es ist kein moralischer Auftrag, sondern freies Geben. Und sie beginnt damit, dass wir hinschauen, keine Grenzen und Zäune vor unsere Augen und Ohren bauen und uns nicht gleichgültig werden lassen.