Auf dem Weg zur Entweltlichung, Teil 3. Bis jetzt habe ich ein wenig das Umfeld der Freiburger Rede betrachtet, vor allem das Konzil und das Dokument „Gaudium et Spes“, aus dem einer der Hauptgedanken der Papstrede stammt. Was aber eindeutig neu ist, ist der Begriff der „Entweltlichung“, der ja in der Folgezeit auch das Stichwort in der Öffentlichkeit geworden ist. Ich halte es für hilfreich, sich diesen Begriff einmal genauer anzuschauen, um den Papst besser verstehen zu können.
Schauen wir als erstes auf das Wort selber. Es ist ja zunächst klar verständlich, was an der Konstruktion des Wortes liegt. „Ent-“ ist ein Präfix, das eine Trennung ausdrückt. Nicht den Zustand des getrennt seins, sondern den (gewünschten) Vorgang des Trennens. Man entfernt, schafft also eine Ferne, eine Distanz. (Lassen wir in diesem Zusammenhang die zweite Bedeutung, ent-springen, ent-flammen, also etwas beginnen, weg, denn das ist offensichtlich nicht gemeint). Es wird also eine Ferne und Distanz zur Welt geschaffen. Soweit ist das sehr klar und eindeutig.
Allerdings ist der Begriff der „Entweltlichung“ keine Wortschöpfung Benedikt XVI., noch ist es ein im Alltag gebrauchtes Wort. In der Theologie ist es ein Begriff, den der evangelische Theologe Rudolf Bultmann geprägt und in die theologische Debatte eingeführt hat. Der Begriff taucht ansonsten auch bei Martin Heidegger auf. Ich denke aber, dass wir bei Bultmann gut aufgehoben sind, teilen Benedikt XVI. und er doch ihre Verankerung im Johannesevangelium und im Spannungspaar Welt – Gott. Dazu aber ein andern mal mehr.
Nun ist Bultmanns Lehre von der Kirche nicht gleich der katholischen, es gibt bedeutende und trennende Unterschiede. Benedikt XVI. hat in seiner Freiburger Rede auch seine eigene Lesart von „Entweltlichung“ deutlich gemacht, trotzdem meine ich aber, dass es sich lohnt, einmal bei Bultmann nachzuschauen. Beginnen wir aber nicht bei der Entweltlichung, beginnen wir bei der Welt selber.
Die ‚Welt’ Rudolf Bultmanns
Die ,Welt‘ versteht Rudolf Bultmann als Art und Weise, wie wir Menschen uns sehen und verstehen und wie wir leben. Das bedeutet, dass der Mensch sich selber begreift und verankert, in dem er auf die Mechanismen der Welt schaut. Wir unterwerfen uns die Welt, also verstehen wir uns als Unterwerfer und Herren. Wir verfügen über Dinge, also sehen und verstehen wir uns als Macher. Wir messen und nutzen, also sehen wir nur Messbares und Nutzbares. Daraus folgt, dass nur noch der materielle Nutzen als Norm unseres Handelns gilt: Was nützt, ist gut.
Das hat zudem noch die Folge, dass wir unsere Welt und dann auch uns Menschen organisieren. Solche Organisation verdrängt das Vertrauen zwischen Menschen, letztlich auch die Verantwortung. Das, was wir sind, geht nämlich nicht in solche Organisationen auf, das geht ja auch gar nicht. Wir sind mehr. Wenn wir uns aber als Teil einer solchen Institution wie Staat oder Volk etc. verstehen, wenn wir uns als Teil davon sehen, dann verdrängen wir etwas von uns, was uns individuell macht.
Hier merkt man deutlich, dass Bultmann als Teil der bekennenden Kirche gegen jede Form des Totalitarismus Stellung bezieht: Der Mensch definiert sich nicht von der Masse aus, von der Gemeinschaft, sondern ist selbst ein Individuum. Für uns heute scheint das selbstverständlicher als für Bultmann damals.
Was aber viel weniger zeitbedingt ist, ist Bultmanns Kritik am Relativismus. Wir Menschen hätten uns seit Beginn der Moderne als Teil eines historischen Prozesses zu sehen gelernt, wir sehen also unsere Geschichte. Wenn wir Geschichte sehen, dann aber immer auch die Möglichkeiten, wie es hätte anders sein können. Wir schauen die vielen Gründe und Motive, durchschauen die Komplexität historischer Vorgänge und erklären einzelne Dinge nicht mehr nur durch ‚Glauben’ oder ‚Macht’, alles wirkt zusammen. Bultmann beschreibt die Reaktion der Menschen hierauf als Relativismus: Wir hätten gelernt, die Möglichkeit zu leugnen, wirklich etwas von der Welt erkennen zu können. Alles sei kontingent, alles sei möglich oder auch nicht. Das betrifft dann auch sie Ethik: Verbindliche Moral kann es nicht geben, alles ist relativ in der Geschichte. Und das folgt dann ja auch logisch aus dem ersten Gedanken: Wenn der Nutzen zählt, dann kann es nichts geben, was größer ist. Alles muss sich letztlich dem Nutzen unterwerfen oder aus dem Nutzen legitimieren.
Ganz modern und zugegeben Bultmann nicht gerecht werdend könnte ich überspitzen: Anything goes.
Ganz wichtig ist für Bultmann, dass das alles sehr abstrakte Gedanken sind. Es ist keine Sozialkritik, die er in seiner Theologie entwickelt, er schaut nicht auf konkrete Anlässe oder Phänomene, sondern es sind Schlüsse, die er aus seinem Verständnis des Menschen heraus zieht. Es geht um Deutungen aus der Anthropologie heraus, aus der Art und Weise, den Menschen zu sehen und zu verstehen.
Das Problem: Wenn wir uns als Mensch früher als Geschöpf verstanden haben, das in die Schöpfungsordnung Gottes hineingehört, so wollen wir nun selbst sein, Geltung haben. Diese Geltung verschaffen wir uns in der ‚Welt’ durch Leistungen und durch all das, was wir tun. Wir sind wer wir sind durch Selbstbehauptung, durch unser Verhältnis zur Welt. Wir tun, schaffen, machen, und deswegen sind wir. Wir wollen unser Leben selbst in die Hand nehmen und sehen uns als diejenigen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Wenn wir das aber wollen, dann sind wir auf die Möglichkeiten beschränkt die das Sichtbare und uns Verfügbare uns gibt. Kurz: Die Welt. Diese Welt beschränkt uns, weil sie alles ist, was wir sehen, um ich selbst sein zu können. Die Welt wird Norm, die Welt wird Raum unseres Lebens. Und weil wir glauben, Herren der Welt zu sein, glauben wir auch, Herren unserer selbst zu sein. Und weil die Welt – das uns Verfügbare – uns genügt, genügen wir uns selbst. Wir verlieren uns an die Welt, sagt Bultmann.
Das ist Sünde. Wenn wir uns an die Welt verlieren, entfernen wir uns auch vom uns Unverfügbaren, von Gott.
Konsequenz der ‚Welt’: Relativismus
Wer Papst Benedikt XVI. zuhört, dem wird einiges bekannt vorkommen, und das nicht nur aus der Freiburger Rede. Nun ist die Theologie des Papstes nicht die Theologie Rudolf Bultmanns, es gibt bedeutende Unterschiede. Aber greifen wir einfach zum letzten Text, den der Vatikan veröffentlicht hat, zur Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag. Da heißt es (eine Ansprache vom Juni 2005 zitierend): „Ein besonders tückisches Hindernis für die Erziehungsarbeit stellt heute in unserer Gesellschaft und Kultur das massive Auftreten jenes Relativismus dar, der nichts als definitiv anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich mit seinen Gelüsten gelten lässt und unter dem Anschein der Freiheit für jeden zu einem Gefängnis wird, weil er den einen vom anderen trennt und jeden dazu erniedrigt, sich ins eigene „Ich“ zu verschließen.“ Und weiter: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und dazu, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das getane Böse zu übernehmen.“ Man kann bei Benedikt XVI. und Kardinal Joseph Ratzinger viele ähnliche Formulierungen finden, etwa in der Eröffnungsansprache zum Konklave April 2005 oder auch in seinem letzten Interviewbuch ‚Licht der Welt’.
Was ich damit sagen will: Mir scheint, dass die Kritik, die Bultmann aus seinem Verständnis der Welt entwickelt, sich ähnlich bei Benedikt XVI. findet. Beide sagen, dass das uns Verfügbare, die ‚Welt’, uns nicht bestimmen darf, weil dann alles relativ würde und wir Liebe und Gewissen verlieren würden. Entweltlichung – und mit diesem Gedanken möchte ich diesen Teil beenden – wäre demnach ein Schritt auf Gott zu, weg von unserem Selbstverständnis als Teil der Welt. Wenn wir aufhören, uns selbst und das von uns geschaffene wichtig zu nehmen und wenn wir aufhören, die Normen unseres Denkens und Handelns in der Welt selbst zu suchen, dann werden wir (wieder) offen für Gott. Ich denke, diese Position lässt sich bei beiden Theologen finden. Aber das will ich mir noch einmal genauer ansehen.
Anmerkung: Geholfen hat mir bei diesen Gedanken neben eigener Lektüre ganz besonders eine Promotionsschrift: Bernhard Dieckmann, ‚Welt’ und ‚Entweltlichung’ in der Theologie Rudolf Bultmanns, 1977 erschienen.