Eine neue Text-Gattung ist geboren. Ich weiß nicht ob es auch Ihnen aufgefallen ist, aber immer öfter lese ich direkt nach Anschlägen online Texte, die eine Unterscheidung im Titel haben. Etwa: „Anschläge von Bottrop: Was wir über den Täter wissen und was nicht“. „Datenleck im Bundestag: Was wir wissen”. Oder ähnlich. Wir lernen also zu wissen was man nicht weiß.
Das geht nun schon einige Zeit so, und immer öfter erscheinen diese Texte auch als Push-Meldung auf meinem Mobil-Fon, offensichtlich sitzen da Menschen in den Redaktionen, die solche Meldungen für wichtig halten.
Nichtwissen wird wichtig
Eigentlich sollte das ja normal sein. Ein Bericht über ein Unglück oder einen Anschlag sollte nur Informationen enthalten, die man wirklich belegen kann. Natürlich kann kaum ein Journalist die Zuckung zurückhalten, auch mal zu spekulieren, mehr oder weniger belegt, aber das gehört zum Geschäft. Dass man nun aber meint, ausdrücklich sagen zu müssen, was man nicht weiß, ist neu.
Es ist natürlich eine Reaktion auf all den Unfug, der im Netz seine Kreise zieht. Krude Verschwörungstheorien genauso wie Social-Bots die darauf programmiert sind, Unruhe zu schaffen. Und das auch hinbekommen, wie wir in den vergangenen Jahren gesehen haben. Die entweder Klickzahlen generieren und deswegen auf Erregung setzen, oder ganz bewusst gesteuert sind.
Nichtwissen wird also zu einer Tugend. Oder besser: Das Bewusstsein um das eigene Nichtwissen wird zur Tugend.
Sokrates auf Redaktionsbesuch
Zuerst ist es mir bewusst aufgefallen, als die Münchner Polizei und dann auch die Medien um die Ereignisse im Münchner Olympia Einkaufszentrum herum gegen die Hysterie antraten. Die Nachricht hatte ja ganz München wirr gemacht, weil niemand was wusste wurde spekuliert und herumgeraten, nicht wenige meinten auch Verschwörungen und dergleichen sofort rauspusten zu müssen. Das Nichtwissen hat geholfen, sich gegen diese Hysterie zu wehren.
Seit Platon es in seiner Apologie geschrieben hat, ist es der Stolz jedes Philosophen, sein Nichtwissen zu wissen. „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Das ist der erste Schritt zur Einsicht und zu mehr Wissen und Information. In diesem Sinne hat die neue Text-Gattung geradezu philosophischen Wert.
München 2016
Journalismus soll uns helfen, mit der Welt umzugehen. Basiert auf Fakten, auf Analysen und auf Interpretationen. Wobei wichtig ist festzustellen, dass die drei nicht identisch sind. Ein konstruktiver, dem Menschen helfender Journalismus muss sich hier neu aufstellen. Und genau das sehe ich in dieser neuen Text-Gattung. Sie kommt schnell, per Push-Mitteilung, und hilft bei der Orientierung im Dickicht all der Info-Schnipsel – richtig oder falsch – die auf uns einschießen. Eine sehr erfreuliche Entwicklung und eine gute Antwort auf all das Fake-Zeug im Netz.
Es braucht angesichts all der Journalismusmaschinen heute guten Journalismus, und der besteht eben auch darin, genau zu wissen, was man nicht weiß.