Es ist ein Text für stürmische Zeiten. Eine Pandemie, inmitten von Finanzkrisen und Schuldenspiralen, inmitten von ökologischen Desastern und globaler Erwärmung, die uns alle gefährdet: wie soll ein gläubiger Mensch darauf reagieren? Politisch, sagt Papst Franziskus. So zumindest habe ich seine neue Enzyklika in meiner ersten Betrachtung genannt.
Ich könnte auch träumerisch-realistisch sagen, das träfe es genauso. Angesichts der Stürme um uns nimmt die Tendenz zu, sich nur um sich zu kümmern. Das geschieht entweder unter dem Deckmantel des Liberalismus oder dem des Populismus. Beides beschädigt aber unsere Gewissheit, Teil einer einzigen Menschheit zu sein. Gerechtigkeit und Frieden rücken so in weite Ferne, anstatt unter möglichen Lösungen für unsere Probleme aufzutauchen (FT 30).
Text für stürmische Zeiten
Der Weg, den der Papst vorschlägt: erstens träumen, zweites ganz praktisch handeln. Beides gehört zusammen. Franziskus ist kein Träumer, der fern von der Realität Utopien verfolgt. Träume müssen sich verwirklichen lassen, sonst bleiben sie formal (FT 219). Und hier kommt nun der Samariter ins Spiel: er handelt ganz praktisch. Er tut was.
„Wir können von unten, bei einer Sache beginnen und für das kämpfen, was ganz konkret und naheliegend ist, und bis zum letzten Winkel des eigenen Landes und der ganzen Welt weitergehen – mit der gleichen Sorgfalt, mit der sich der Reisende von Samaria jeder einzelnen Wunde des verletzten Menschen annahm. Suchen wir die anderen, und nehmen wir die uns aufgetragene Wirklichkeit in die Hand, ohne Angst vor Schmerz oder Unvermögen, denn dort liegt all das Gute verborgen, das Gott in das Herz des Menschen gesät hat.“ (FT 78)
Hier wird Nächstenliebe politisch, die Welt prägend.
Politische Nächstenliebe
Aber braucht es dafür überhaupt Nächstenliebe? Reicht nicht das Recht, oder ist das Recht nicht sogar die bessere Grundlage, weil nicht auf Emotion gebaut? Das ist eine Kritik an der Enzyklika. Franziskus will aber keine abstrakte Weltordnung schaffen. Er beobachtet und benennt die Schwächen er gegenwärtigen, setzt dann aber eine Motivation dagegen. Einen inneren Motor, der allen Menschen eigen ist, wenn sie nicht um sich selber kreisen: die Geschwisterlichkeit. Das Zusammen-Gehören.
Und genau das wird für Christinnen und Christen im Samariter sichtbar. Nur so, konkret und handelnd, entsteht das „Wir“.
„Wir werden immer neu gerufen, obwohl es auch als grundlegendes Gesetz in unser Sein eingeschrieben ist: dass die Gesellschaft sich auf den Weg macht, um das Gemeinwohl zu erstreben, und von dieser Zielsetzung her seine politische und soziale Ordnung, sein Beziehungsnetz und seinen Entwurf des Menschen immer neu gestaltet. Mit seinen Gesten hat der barmherzige Samariter gezeigt, dass die Existenz eines jeden von uns an die der anderen gebunden ist: das Leben ist keine verstreichende Zeit, sondern Zeit der Begegnung.“ (FT 66)
So entsteht ein „Wir“
Und so verlässt die Nächstenliebe auch den Status einer reinen Predigt, nett und ungefährlich. Wie seit Jahren schon die Barmherzigkeit wird auch die Nächstenliebe bei Papst Franziskus weltgestaltend und praktisch. Dazu enthält die Geschichte vom Samariter auch eine deutliche Kritik an Religions-Praxis:
„Bei jenen, die vorbeigehen, gibt es eine Besonderheit, die wir nicht übersehen dürfen: Sie waren religiöse Menschen. Mehr noch, sie widmeten sich dem Gottesdienst: ein Priester und ein Levit. Das ist eine besondere Bemerkung wert: Es weist darauf hin, dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, keine Garantie dafür ist, dass man auch lebt, wie es Gott gefällt. […] Es gibt hingegen Weisen, den Glauben so zu leben, dass er zu einer Öffnung des Herzens gegenüber den Mitmenschen führt, und dies ist Gewähr für eine echte Öffnung gegenüber Gott. Der heilige Johannes Chrysostomus hat diese Herausforderung für die Christen mit großer Klarheit zum Ausdruck gebracht: »Willst du den Leib Christi ehren? Dann übersieh nicht, dass dieser Leib nackt ist«.“ (FT 74)
Selbstkritik der Religion
Die Enzyklika will ausbuchstabieren, was das nun heißt, Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit zu praktizieren. Das geschieht nicht von selbst Es ist auch nicht selbstverständlich, selbst wenn ‚Nächstenliebe‘ ein beliebter Predigtbegriff ist.
Aber wo soll man anfangen? Franziskus antwortete mit einer katholischen „Sowohl-als-auch“-Strategie: träumen und konkret handeln. Und daran schließt der Papst dann die Sätze an, die vor allen anderen auch in der Kirche selber abgelehnt werden, Sätze aus der katholischen Soziallehre. Das Recht auf Privatbesitz ist nicht absolut (FT 120). Das Recht von Migranten und Flüchtlingen (FT 129). Die Ungerechtigkeit von Krieg und Todesstrafe (FT 255). Das alle bekommt seine besondere Schärfe.
Da darf und kann die Gemeinschaft der Gläubigen nicht abseits stehen. „Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir genießen einen Raum der Mitverantwortung“ (FT 77). Da muss auch die Kirche das Wort ergreifen:
„Aus diesen Gründen respektiert die Kirche zwar die Autonomie der Politik, beschränkt aber ihre eigene Mission nicht auf den privaten Bereich. Im Gegenteil, sie kann und darf beim Aufbau einer besseren Welt nicht abseits stehen, noch darf sie es versäumen, die seelischen Kräfte zu wecken, die das ganze Leben der Gesellschaft bereichern können“ (FT 276).
Es ist keine Überraschung, dass aus bestimmten wirtschaftsliberalen Kreisen für diese Enzyklika kein Lob kommt. Aber das vielfältige Lob, das man jetzt hört und das schon Laudato si‘ begleitete, ist ohnehin zwiespältig. „Wegloben“ ist auch eine mögliche Form der Verdrängung. Franziskus verlangt nichts weniger als einen ganz anderen Lebensstil von den reichen Ländern, den Christen erst Recht. Und er wird dabei ganz konkret, freundlich sein, zuhören, Lebensmittel nicht verschwenden, statt chatten einander einladen. Oder die Frage stellen: Was macht eigentlich meine Bank mit meinem Geld? Eigentlich können wir jetzt nicht einfach weitermachen wie immer.
Wie der Tagesspiegel schreibt, ist der Papst offenbar nicht mit jeder Art von Politisierung einverstanden. Er denkt dabei besonders an die politisierten Irrwege der Kirche in Deutschland.
Der Tagesspiegel weiß, was der Papst denkt? Beeindruckend.
Sie haben natürlich recht. Es ist nicht der Tagesspiegel sondern die Tagespost gemeint.
Es ist beruhigend, dass es weder der Nachtspiegel noch die Nachtpost sind.
Den Synodalen Weg am Rande einer Generalaudienz gegenüber einem emeritierten Bischof quasi als Tür-und-Angel-Gespräch mal so nebenbei behandeln, das empfinde ich als schwierige „Diplomatie“. Den Gang in die Presse des Bischofs übrigens auch. Was bleibt ist, ist für mich die Frage, ob der Brief des Papstes beim Synodalen Weg wirklich keine Rolle spielt? Ist die Evangelisation, die Franziskus so wichtig ist, Tatsächlich kein Thema? Lieber Pater Hagenkord, was ist Ihr Eindruck?
Der Brief des Papstes wird dauernd zitiert, bekannt ist er also und gelesen wurde er auch. Diese Sorge von Herrn Algermissen kann ich also nicht teilen.
Der Brief wurde selbstverständlich gelesen, aber wurden daraus Konsequenzen gezogen? Diesen Eindruck hatte ich bisher nicht.
Als der Brief seinerzeit veröffentlicht wurde, hat man aus den Reihen der DBK sofort erklärt, dass dieser Brief kein Stoppschild für den synodalen Weg enthalte sondern sogar eine Ermutigung.
Genau. Und genau so lese ich den Brief auch weil auch genau das da drin steht. Kann man hier im Blog nachlesen. „Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist. … Wie bei jener Gelegenheit, möchte ich euch meine Unterstützung anbieten, meine Nähe auf dem gemeinsamen Weg kundtun und zur Suche nach einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation ermuntern,“ so der Papst.
Dass der Papst über die Kirche in Deutschland besorgt ist, kann man auch hier lesen, und das nicht zum ersten Mal:
https://www.katholisch.de/artikel/27147-altbischof-algermissen-papst-besorgt-wegen-kirche-in-deutschland
Nur zur Präzisierung: wir reden hier über Bischof Agermissen und dessen Wahrnehmung, richtig?
Nein, wir reden über ein Gespräch des Papstes mit Bischof Algermissen und den Inhalt des Gesprächs.
Ich war selber schon bei Generalaudienzen dabei, das sind keine Gespräche, das sind kurze Wortwechsel in verschiedenen Sprachen. Keine Gespräche.
Bischof Algermissen hat in Rom nicht nur dieses eine Gespräch geführt.
Sagt wer?
Wer lesen kann, ist im Vorteil
Das mt dieses Gesprächen eines Bischofs in Rom hat ja schon was. Es erinnert mich gerade total an die Sonderoffenbarungen bei Marienerscheinungen.
Aber auch hier braucht es, meines Wissens erst einer Anerkennung aus Rom. Warum fragt eigentlich keiner mal in Rom beim Franziskus nach,in der Herr Bischof richtig zugehört hat. Oder ob er nur zu hören meinte war er hören wollte??!
Audiatur et altera pars.
Vielleicht mit Übersetzung und Erklärung, wäre fairer allen hier gegenüber.
Latein ist die Muttersprache der Katholischen Kirche. Und wer mit dieser ehrwürdigen Sprache nicht vertraut ist, kann immer noch googeln.
Zur Erklärung: Der Link verweist auf ein Interview mit Bischof Algermissen, der Ihnen in diesem Interview ganz deutlich widerspricht. Da wir hier immer nur Ihre Sicht der Dinge lesen, halte ich den Verweis auf die Sichtweise Ihres Kontrahenten für hilfreich bei der eigenen Meinungsbildung.
Aber das ist doch Unfug, das mit den Meinungen. Die Frage ist, wie die vorgebracht werden. Siebe Wortwahl „Kontrahent“.
Die Wallfahrt in Aachen, bestenfalls mit Papstbesuch, wäre für 2021 sehr heilsam und würde viel Transparenz schaffen. Da treffen sich dann alte und neue Werte. Im Angesicht einer alten Heiligtums. Mir gefallen solche Brücken besonders.
Aachen ist die Hoffnung.
@ Johanna, die von Bischof Algermissen geäußerten Befürchtungen im von Ihnen verlinkten Artikel, teile ich auch. Die vom Synodalen Weg behandelten Themen können nur im Rahmen eines Konzils verbindlich gelöst werden.
Auch Bischof Overbeck äußerte neulich bei katholisch.de, dass es keinen Konsenz geben wird, also jetzt nur mal bezogen auf die Synodalen.
Die Lehre, so wie wir sie heute haben, ist natürlich nicht vor rund 2000 Jahren fix und fertig vom Himmel gefallen sondern hat sich über die ganze Kirchengeschichte hin entwickelt.
Sie kann sich auch heute weiterentwickeln, aber nicht ohne Rom oder gegen Rom sondern nur im Einklang mit dem Lehramt, und dazu braucht es ein 3. Konzil auf weltkirchlicher Ebene.
Der Synodale Weg müsste kleinere Brötchen backen oder in Rom auf ein neues Konzil hinwirken, sonst wird der Katzenjammer danach noch größer sein als heute.
Durch Corona haben wir inzwischen eine Situation, in der sich wahrscheinlich nicht nur ich frage, ob, wann und wie wieder Gottesdienste für Alle stattfinden können. Das beschäftigt mich viel mehr als die Themen des Synodalen Weges.
Die derzeitige Situation deutet eher auf neue Einschränkungen hin. „Mein“ Bischof von Rottenburg – Stuttgart musste seine auf den 9.10. verschobene Chrisammesse ganz kurzfristig in deutlich kleinerem Rahmen stattfinden lassen als geplant, weil das Bundesland Baden – Württemberg die Vorschriften wieder verschärft hat. Das sind beunruhigende Anzeichen, die “ die Kirchen“ mehr beschäftigen sollten als Strukturreformen.
Wer auch immer von einer deutschen Nationalkirche schwadroniert, möge bitte daran denken: Es st jederzeit für alle, die los von Rom wollen, die Altkatholische Kirche als Option da. Die Tatsache, dass sich die Konversionen dorthin in überschaubarem Rahmen halten, zeigt, dass die Synodalen den Papst als Oberhaupt schätzen, selbst wenn sie meinen, er irre, wenn er Frauen und Verheiratete nicht im Amt sehen wolle.
Ich halte die Woelki/Voderholzer/Algermissenbedenken für reine Gschaftlhuberei, mit denen man die Angst vor Machtverlust kaschiert. Was würde Rom wohl machen, wenn fünf deutsche Bischöfe Verheiratete weihen? Klein beigeben. Bei den Piusbrüdern hat man es ja auch getan.
Die Gefahr einer Nationalkirche – im Protest GEGEN den Papst bis in den Episkopat, mit schrillen populistischen Tönen gegen Lesben und Schwule, mit latentem Antisemitismus in weiten Kreisen – sehe ich viel eher in Polen. Da sagt seltsamerweise keiner was und man lässt sogar Radio Maryja gewähren.
Im Übrigen ist der Zölibatswunsch des 11. Jahrhunderts auch nicht in Rom entstanden, sondern einzelne Kirchen, wie die mailändische, sind vorgeprescht. Wer da immer redet: „Dies und das könne nur in Rom gelöst werden“ hat die Lektion der Kirchengeschichte nicht verstanden.
Ich glaube nicht, dass Einheit Gleichkeit oder sogar Gleichhaltung oder gar Gleichschaltung bedeutet.
Kurche oder Glaube sind ja keine Diktarur.
Einheit mit Rom ist auch möglich, wenn wir in Deutschland Wege gehen die für uns richtig sind.
Natürlich müssen wir uns hier von Angst bor Veränderung befreien. Und die in Rom oder mit Rom verbundenen Machtstrukturen von Ihrer Macht.
Dann wäre auch eine Einheit in Vielfalt möglich.
Nötig wäre aber eine Umkehr weg vom Machgehabe und weg davon Gott und seinem Geist nucht mehr zu trauen.
spannend.
Der Papst zitiert an wichtigen Stellen in der neuen Enzyklika FT Bischofskonferenzen von unterschiedlichen Weltregionen.
Wir leben in komplexen Zeiten. Wir verstehen nicht alles. Ich hab im Jahr 2013 weder den Rücktritt eines Papstes am Lourdes Tag, noch die erste Formel „buona sera“ des neuen Papstes, verstanden. Oft interpretiert man zu viel rein und man ist dann zu verwirrt.
Es gibt sicher einen roten Faden. Jedoch ist es ein Wollknäuel, den wir noch lösen müssen. Das wurde hier schon mehrmals diskutiert. Dafür bin ich dankbar. Wir als Katholiken müssen eben auch die Möglichkeit ins Auge fassen, der rote Faden stammt im Quell nicht aus Regensburg, Buenos Aires oder Rom. Nein, eventuell wird er doch im Himmel gehalten. Von Maria, von Katharina, von Nikolaus, wir wissen es nicht.
https://paterberndhagenkord.blog/die-macht-des-guten-maria-knotenloeserin/
Das Bild „Maria Knotenlöserin“ ist unendlich schön. In der Antike, das ist jetzt wieder halbintellektuelles Wissen, gibt es Darstellungen, da sitzt Maria am Spinnrad, als der Erzengel Gabriel in die Stube schreitet und die Botschaft überbringt.
Alles hat mit Textilien zu tun. In meinem Herzen, das einfach gestrickt ist, steigt die Freude,
dass in Aachen ein richtiger Aufbruch stattfinden wird. Wir müssen nur Geduld haben.
Maria, die kolportierten Reliquien, der Papst eventuell. Und dann sicherlich schon das Ende von Covid. Mehr Zuversicht können wir heute nicht haben.
Welchen propositionalen Gehalt hat Ihr – in meinen Augen wirrer – Text?
Ich finde den Papst in Ordnung. Viele Menschen in Deutschland wissen gar nicht, was Not ist und durch die gegenwärtige Idealisierung der Jugend (Historiker lehren uns, es sei ein Erbe der Nazis) verschiebt sich der Moment der Chance aufzuwachen deutlich nach später. Die die Not kennen haben oft keine Stimme, es schnürt Ihnen die Kehle zu und sie werden beschämt und gedemütigt wie schon Jesus am Kreuz. Wo doch der Papst Jesus nachfolgt, warum nicht als Gläubiger dem Papst nachfolgen? Wer wissen will, was Nachfolge ist, dem empfehle ich mal, nach Sardinien zu fahren und zu schauen, wie die Schafe dort durchs Gebirge kommen, nämlich nach dem Prinzip Nachfolge und synodal. Der Text von Franziskus ist mal wieder cool, umfassend, klar, nichts Verrücktes drin. Endlich ist ausserdem mal von Oswald v. Nell-Breuning die Rede. Wichtiger Mann übrigens für’s deutsche Grundgesetz und das Programm der SPD.