Es geht nicht nur um das Leben, sondern auch um den Tod. Wolfgang Schäuble, Boris Palmer, Klaus Mertes: Ganz verschiedene Beiträge haben in den vergangenen Tagen die Debatte um den Umgang mit der Corona-Krise geprägt. Über den Tod redet keiner gerne, dementsprechend schräg lieft die Debatte dann auch ab.
Dass ich die drei Namen oben in einem Satz genannt habe, ist schon ein wenig bösartig. Palmer ist auf Tabubruch aus, da ist viel Inszenierung. Bei Schäuble und Mertes sehe ich dagegen Ernsthaftigkeit im Anliegen, auch wenn ich weiß, dass nicht alle das teilen mögen. Ich habe die drei aber zusammen genannt, um einfach die ganze Bandbreite der Debatte zu skizzieren. Aber auch, um die Notwendigkeit zu betonen, innerhalb der Debatte zu differenzieren.
Über den Tod redet keiner gerne
Ich habe lange gezögert, das hier zum Thema zu machen. Schon bei vergangenen Beiträgen dazu kamen unsägliche Kommentare, von denen ich auch einige nicht frei gegeben habe. Ich nenne das hier, weil auch das zur Debatte dazu gehört. Wir reden hier über den Tod und das Leben, das ist für viele schwer auszuhalten.
Dabei ist doch dieses Thema genau das, wozu Religionen etwas zu sagen haben. Stattdessen werden Kirchenvertreter nur zu Themen wie Verbot und Kirchensteuer zitiert. Verständlich, wenn ich als Journalistin oder Journalist nichts mit Religion am Hut habe, dann ist das wirklich das einzige, was interessiert. Aber unter Glaubenden sind Tod und Leben Themen, zumal wir immer noch in der Osterzeit sind.
Unsere Themen
Nächstenliebe gehört zu unseren Themen. Die Solidarität mit den Armen, ja mehr noch, das Erkennen Christi im Armen und den Menschen, die an unserem Wohlstand keinen Anteil haben. Gerechtigkeit ist ein Name Gottes, wie wir sagen. Und eben das Leben, das wir nicht uns selbst verdanken und von dem wir glauben, dass es uns nicht geliehen sondern auf ewig geschenkt ist, über den Tod hinaus.
Es geht in der Krise nicht nur um das Leben, sondern auch um den Tod. Die Gesellschaft verdrängt das weitgehend, da gibt es zwar jeden Tag Zahlen, aber nicht viel mehr. Um den Tod zu wissen bedeutet auch, das Leben und die Welt anders sehen zu können. Das wussten auch schon die griechischen Philosophen.
Da ist mehr als nur „Messe – ja oder nein“
Gut an der Debatte wie sie Schäuble führt finde ich, dass es nicht sofort um Fundamentalkritik geht. Gegen Maßnahmen, gegen Personen. Sondern es liest sich wie die Beobachtung eines gelassenen Politikers, der um Gefahren weiß, aber andere Dinge nicht aus den Augen verliert. Grundlegende Dinge.
Innerkirchlich dreht sich die Debatte leider vor allem um „Messe – ja oder nein“. Auch hier im Blog übrigens, bei vielen Kommentaren. Aber wir haben doch viel mehr zu sagen als das. Ob jemand nun ‚seine‘ Messe bekommt oder nicht, das ist doch erst einmal zweitrangig. Corona hat noch ganz andere Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Unsere Themen. Es wäre schön, wenn wir die mal wieder unter uns besprechen könnten. Dann wird auch diese Krise wie es religiös heißt fruchtbar für uns.
In wesentlichen Teilen Ihres Beitrags stimme ich Ihnen zu. Die Gesellschaft, zumal die europäische Spaßgesellschaft, neigt dazu, den Tod als geschäftsschädigend zu verdrängen. In der Welt der Jungen und der Schönen hat der Tod keinen Platz.
Der (natürliche) Tod gehört zum Leben dazu. Wir Christen wissen, daß er nur die “uns zugewandte Seite jenes Ganzen ist, dessen andere Seite die Auferstehung ist”. Das erlaubt uns auch, den Tod gelassener zu sehen als die weltliche Gesellschaft es jemals vermögen wird. Diese Gelassenheit schließt dabei selbstverständlich ein, alles ethisch Vertretbare zu unternehmen, um den Tod hinauszuzögern. Diese Gelassenheit hätte uns auch vor der aktuellen Coronapanik schützen können.
Und da bin ich bei dem zweiten Teil, in dem ich Ihren Standpunkt nicht teile. Die heilige Messe und der Empfang der Heiligen Eucharistie sind mehr als ein materielles Gut, auf das man einen Anspruch erheben kann. Sie sind einfach unverzichtbar, um die o.g. Gelassenheit aufzubringen. Sie sind Gottes Dienst an uns Menschen, den auszuschlagen, wir kein Recht haben.
Mir geht es auch weniger um die theologische Bedeutung der Eucharistie. Aber wenn es unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist, wie gewohnt die Messe zu feiern, dann nehme ich das auch als Aufforderung, sich andere Dimensionen des Christlichen genauer vorzunehmen.
Danke Pater Hagenkord, dass Sie die Drei zusammenfassen. Sie schrieben auch: „Wir reden hier über den Tod und das Leben, das ist für viele schwer auszuhalten.“ Es wird schwer auszuhalten sein, wenn 10% oder mehr infiziert sind, denn diese werden nicht einfach aufstehen und gesund an Leib und Geist, wie ER nach Emmaus gehen. Die Folgeschäden werden unser aller Mitgefühl weit überstrapazieren. Vor diesem schwarzen Loch, in das dann die mobile Spaß- und Konsumgesellschaft stürzt, habe ich Angst. Hören Sie sich alle das an, was in 1 Stunde und 30 Minuten Prof. Lauterbach zu Corona sagt:
https://www.youtube.com/watch?v=-73gTjn-TVM
Pater Hagenkord noch ein Dank, weil Sie den Nagel richtig treffen mit den Worten:
„Innerkirchlich dreht sich die Debatte leider vor allem um „Messe – ja oder nein“
Als Heilmittel gibt es die seelische Begierde, sie ist vollkommen vergessen. Diese kann alles, kann alles ersetzen, sofern der Rocksaum mit ehrlicher Begierde berührt wird. So habe ich es einst gelernt. Oder habe ich etwas Falsches gelernt? Dann ist aber alles falsch.
Ich wünsche Ihnen sehr, daß Sie und Ihre Familie von diesem Virus verschont bleiben! Zur Gesundheit gehört aber auch ein Leben ohne Angst. Um Angst zu vermeiden, ist der Konsum der Reden oder Interviews von Prof. Lauterbach kontraproduktiv. Der Mann schürt nur Panik. Das ist sein politisches Geschäft. Bleiben Sie statt dessen bei dem Heilmittel, das im letzten Absatz Ihres Kommentars benannt. haben.
Meinen Sie Angst oder Furcht oder ist das für Sie dasselbe?
@Lector,
Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie hier so was wie persönliche Verleumdung begehen…
Gerade Lauterbach agiert in seinen Beiträgen In der Krise nicht als engagierter Parteipolitiker, aber in seinem erlernten Beruf als Epidemiologe .. der einfach nur warnt vor zu schnellen Aktionen wie die Öffnung der Bundesliga…
Nun ja, wenn es nach Lauterbach ginge, würden wir noch zwei Jahre unter Hausarrest gestellt werden, da es vorher wohl keinen Impfstoff gegen dieses Virus geben wird. So hat er sich mehrfach geäußert und malt dabei immer neue Horrorszenarien an die Wand.
Welche Wirkung er dabei gerade auf ältere Menschen erzielt, scheint ihm völlig egal zu sein.
@Lector:
Leider finde ich nirgends Herrn Professor Lauterbachs grauenerregende Äußerung zu einem zweijährigen Hausarrest für alle. Möglichweise habe ich sie mit meinem Eierbecherhorizont überlesen oder überhört.
Googeln mach schlauer. Such mal nach Maischberger und Lauterbach. Oder einfach nach Lauterbach und zwei Jahre.
Herr Lauterbach wird wird wegen seiner Panikmache auch vom Vizepräsidenten des Deutschen Bundestage kritisiert. Lauterbach handelt einfach unverantwortlich.
Mal eine generelle Frage: Warum müssen Sie sich unbedingt an einer Stimme abarbeiten? Auf eine Person einschießen? Ich jedenfalls nehme um mich herum keine Panik wahr, die von irgendwem künstlich erzeugt würde. Vielleicht lassen wir einfach mal die Kirche im Dorf.
Kürzlich stand in der BBC ein Artikel über den Wandel, den Corona in den Ausdrucksformen persönlicher Beziehung ausgelöst hat. Küsschen zur Begrüßung, Umarmung, Schulterklopfen, Händeschütteln: all das steht neuerdings unter dem Generalverdacht der Viren-Übertragung und wird in Zukunft wohl eher vermieden werden. Dabei gewinnt es jedoch an Wert. So ist es bezeichnend, dass die Sakramente auch eine soziale und sinnlich-körperliche Dimension haben: sie berühren das, was das Leben lebenswert macht.
Für den Artikel hat die BBC ein Bild verwendet, das Papst Franziskus beim Bad in der Menge zeigt. Der Papst und mit ihm die Kirche stehen hier emblematisch für die Wertschätzung menschlicher Nähe. Eine Nähe, die heute verloren zu gehen droht, und die in der Kirche noch immer bewahrt zu werden scheint. Von außen betrachtet scheint es so – aber innen sind auch wir drauf und dran, körperliche Nähe als lebensbedrohlich so weit wie möglich vermeiden zu wollen.
Hier ist der Link zu dem oben erwähnten Artikel:
BBC News: How personal contact will change post-Covid-19
http://www.bbc.com/future/article/20200429-will-personal-contact-change-due-to-coronavirus
Solidarität ist ein politisch belegter Begriff der Neuzeit. Ich tu mir da mit der Projektion des Evangeliums in diese politische Sprache noch etwas schwer. Aber man kann ja lernen. Warum? Weil das so institutionell, also fast parteipolitisch klingt, der Staat oder eine große Organisation schafft Solidarität. Ich verstehe die christliche Soziallehre eher im Kleinen: liegt ein Reisender auf der Straße, zusammengeschlagen und verwundet, dann hilft der Samariter und ein Rabbi ging vorbei. Er, der helfende Samariter, muss deshalb nicht in einem Verein (jetzt fällt mir blöderweise die polnische Solidarnosc ein, weil wir gerade so viel von JP II feiern) organisiert sein. Sein Gewissen, seine Ethik oder sein Glaube haben im gesagt, dass er den Juden nicht liegen lassen soll.
Ich hab mal in der Datenbank der Kirchenväter gesucht, es gibt wenige = 2 Treffer, das ist natürlich jetzt der Übersetzung geschuldet. Das griechische oder lateinische Vokabel wüsste ich gar nicht, aber der Autor hat es eben mit “Solidarität” übersetzt
Sucht man nach Almosen, Sorge für die Armen, Fürsorge, Mitleid etc. pp., findet man hundertfach Treffer.
Bei Gregor von Nazianz (um 390 nach Chr), die wichtige Stelle, die mit Solidarität übersetzt wird, wie folgt. Die andere ist sehr kurz und unbedeutend:
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So wirkte der Erlöser; nur durch seinen Willen wollte er, der Gott, uns erlösen, nachdem er durch sein Wort die Welt erschaffen hatte. Das Wertvollste und Ergreifendste, was er uns geschenkt hat, ist Mitleid und Solidarität. Was haben wir als Jünger des sanften, gütigen, so dienstbereiten Christus zu tun? Müssen wir nicht die Barmherzigkeit des Herrn nachahmen? Müssen wir nicht gegen unsere Mitknechte gut sein, damit der Herr uns mit gleichem Maße vergelte, mit dem wir messen2? Sollen wir nicht durch Milde unsere Seelen retten? Es ist genug, daß man als freier Mensch dienen muß und daß die Gegensätze so groß sind, daß, obwohl alle aus dem gleichen Staube kommen, die einen herrschen, die anderen beherrscht werden, die einen Abgaben auferlegen, die anderen Abgaben zahlen, die einen Unrecht und Leid zufügen dürfen, die anderen betteln und ringen müssen, um von der Not verschont zu bleiben…
Ihre Antwort lässt mich sprachlos. Nach dem alten Wort: “Sie geben dem Armen Brot, fragen aber nicht, warum er Hunger hat”? Schon lange sprechen wir etwa von struktureller Sünde, die über den Einzelnen hinaus geht. Und das Gegenstück ist eben ein menschliches Verhalten, das Gemeinsam sich um Fragen kümmert, die andere Menschen haben. Um Nöte. Und so weiter.
Christentum ist eminent politisch. In dem Sinne, dass es die Welt verändern will, prägen will. Solidarität ist ein Wort, das über das Christliche hinaus geht und über das wir mit anderen Glaubenden und Nichtglaubenden zusammen daran arbeiten können.
Was die verehrten Kirchenväter angeht: die hatten auch ihre Meinungen zur Sklaverei. Zum Glück haben wir uns davon weit entfernt. Man darf den Glauben auch weiter entwickeln. Papst Franziskus hat das mit Bezug auf die Todesstrafe ganz klar getan.
Die Kirchenväter waren eben auch nur Menschen / Theologen ihrer jeweiligen Zeit.
Das Christentum muss Antworten auf die Fragen und Nöte UNSERER Zeit geben, sonst bewahrt es nur noch die Asche, statt das Feuer weiter zu geben.
Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, dass Staaten und Staatengemeinschaften keine abstrakten Gebilde sind, von realen Menschen ihrer jeweiligen Zeit und Kultur gebildet und regiert werden
Das kommt an.
Dann frag ich direkt, weil ich es wirklich nicht verstehe: wie kann man Solidarität von/der Staaten einfordern, zB in dieser Krise der Epidemie. So lese ich gewisse Aussendungen. Nicht die MENSCHEN sollen solidarisch/mitfühlend sein, nein: die Staaten (über das Konstrukt EU oder UNO oder).
“Europa muss nun solidarisch sein”. Wie ist das zu verstehen.
Ist dieser Ansatz wirklich exegetisch begründbar.
Ich hab eher ein Bild der Gemeinschaft der Heiligen oder auch Gottes (jetzt lehn ich mich weit hinaus), dass es diesen völlig egal ist, ob der Staat linksrum oder rechtsrum tanzt.
Das Evangelium, die Gebete – sie wenden sich doch an die Seele des einzelnen Christenmenschen.
Nicht an das Kollektiv. Ich weiß, dass dies die Jesuiten in dieser Zeit sehr unterstützen, viel kommt aus Argentinien oder Venezuela, aber man tut sich schwer damit.
Dass im Irdischen meist Ungemach ist, davor warnt uns die Kirche seit den Vätern.
Natürlich muss man sich gegen Tyrannei oder Sklaverei wehren. Wenn ich Paulus zur Sklaverei richtig gelesen habe: er war kein Kämpfer. Wehren wir uns ausreichend?
Die eigentliche Bedrohung für Christen und alle Menschen sehe ich für mich in folgendem: die irdische Welt schafft einen völlig anonymen kollektiven Apparat, in der das Individuum quasi abgeschafft wird. Es wird eine philantrophische Ethik weltweit vorgegaukelt, eben vorgegaukelt. Die Rechte der Menschen werden mit jenen von Tieren verglichen, und später mit Maschinen. Das ist ziemlich gefährlich.
Positiv ist: einen (gesunden) Hund dürfen sie rechtlich nicht mehr ohne Grund einschläfern. Da macht man sich strafbar.
Im Irdischen ist Ungemach. Aber Gott wurde irdisch, Gott wurde Mensch. Der Gegensatz Welt – Kirche/Glauben/Gott ist falsch.
Und was der Appell ans „Kollektiv“ angeht – was ein von Ihnen bewusst wertend benutzter Begriff ist – Gott erlöst nicht Individuen. Gott erlöst sein Volk. Ganz biblisch. Heils-Individualismus führt weg von dem Gott, der sich offenbart hat.
@P. Hagenkord, Danke für Ihre letzten beiden persönlichen „ Interventionen“
Ich hatte mir ernsthaft überlegt aus ihrem – eigentlich GESCHÄTZTEN Blog – auszusteigen, weil ich etwas den Eindruck habe, dass immer mehr „ Traditionalisten“
Ihren Blog „übernehmen“…..
Ich bin seit 2015 Ihrem Blog verbunden, weil er eigentlich für PLURALITÄT steht.. und die Streit- KULTUR!!! lebt!!
Die Gesprächs Kultur der ersten Vollversammlung beispielsweise auf dem „ Synodalen Weg“ Hab ich im Stream verfolgt und meine, dass „man“ da einen recht vorbildhaften Austausch verfolgt..
Es ist immer ein schmaler Grad. Aber ich finde es wichtig, dass verschiedene Stimmen präsent sind. Auch wenn ich ihnen deutlich widerspreche.
Der Schächer am Kreuz wurde laut Schrift “individuell” erlöst.
Und jedem Sünder seine eigenen Sünden vergeben. Stimmt alles. Aber die Verheißung gilt dem Volk Gottes. Allein die Zwölfzahl der Apostel zeigt sehr deutlich, wie wichtig das auch uns weiterhin ist.
In den Gesellschaften und Familensippen des AT mag die Zugehörigkeit zu einem von Gott auserwählten “Volk” den Menschen bis in die Knochen hinein klar gewesen sein, aber heute wirkt dieser Begriff doch ziemlich verstaubt. Gehören z.B. die Zeugen Jehovas, Mennoniten, Adventisten usw., die sich allesamt auf die Bibel berufen, auch dazu? Die Zwölfzahl ist wohl eher babylonischen Ursprungs als rein biblisch.
Ah, Ihr Argument ist biblisch, aber meines babylonisch? Wie wäre es mit etwas Exegese, Theologie, oder lehnen Sie auch diese Fachleute ab?
Ihre Antwort, oder besser Ihre Nichtantwort, trägt zur Klärung meiner Frage herzlich wenig bei. Wie wäre es mit noch mehr Freude am Vermitteln Ihrer Fachkenntnisse?
Bitte, gerne: Sie zitieren die Bibel und wollen sie als Argument gelten lassen. Aber wenn ich dasselbe tue, dann gilt das auf einmal nicht? Weil sie exegetische Befunde gegen die Schrift zitieren? Also ob alles, was prä-biblische Traditionen aufgreift, nicht gelten würde. Das gilt aber auch für die Zehn Gebote, die Schöpfung, die Jungfrauengeburt etc. “Rein biblisch” gibt es nicht.
Das ist jetzt aber eine exegetische Aussage, ich berufe mich also auf Fachwissen.
Ah, ich meine allmählich zu verstehen, was Sie sagen wollen: Die Verfasser der alttestamentlichen Schriften haben aus dem babylonischen Erbe die Vollkommenheitszahl genommen und daraus die Zwölferstammesstruktur des von Gott erwählten Volkes komponiert, dem er (ausschließlich) seine Verheißungen gemacht hat. Und die Verfasser des NT haben diese Grundstruktur auf die Apostelzahl transponiert, um auszudrücken, dass sich Gottes Verheißungen weiterhin auch im Neuen Bund auf die Gesamtheit des (erweiterten) Gottesvolkes und nicht auf Einzelpersonen beziehen. Wenn dem so ist, könnte es dann sein, dass die Unterscheidung zwischen Volk und einzeln schon früh auch darin begründet ist, dass sich das Volk Israel von einer Gottheit, die nur dem einzelnen König, Pharao oder Herrscher höchstpersönlich Verheißungen machte (Stichwort: Mundanastrologie), abgrenzen wollte?
Meinen Sie mit Heils-Individualismus das, was man mit Erfahrungsreligion (statt Offenbarungsreligion) verbindet?
Nein.
Die Zwölferzahl bezieht sich auf die ursprünglichen zwölf Stämme Israels.
Genau. Auf das Volk. Nicht auf die Ansammlung von Individuen.
Heils-Individualismus: den Begriff kannte ich so gar nicht. Tja, wenn das als Egoismus ausgelegt wird. Klingt so nach frömmenden Streber, der am Ende scheitert.
Eventuell hilft uns noch der Begriff “Familie” als Begriff. So als Mittelding zwischen Einzelner und Volk/Staat. Mein Bild, sofern man sowas haben kann, von Himmel (oder Purgatorium) ist eben: dort gibt es keine Parteien, Strukturen, Machtapparate. Es ist doch die individuelle Beziehung zu Gott wichtiger.
Kirchliche Orden wird es schon geben. Kann sich ja jeder seine stadt oder seinen Lieblingsheiligen suchen, so ein Bild haben die Kopten. Der eine geht zu Ignatius, der andere zu Katharina von Siena. Der dritte klopft nach seinem irdischen Tod in der Stadt von Mutter Teresa an. Dann ist der Unterschied zwischen Fortschritt und Tradition relativiert.
ich hab nur noch etwas studiert, woher der Begriff Solidarität im 20. Jh kommt. Laut Wikipedia: Habermas, Vierkandt, Brecht. Eindeutig soziologisch, also nicht so richtig theologisch oder christlich. Marxistisch angehaucht. Frankfurter Schule.
Solidarität im Großen würde ich auf eine einfache Formel bringen: leben und leben lassen. Wenn man die Welt der Sanktionen anschaut, dann sehe ich da keinerlei Solidarität mit Andersdenkenden.
Dann könnte man zur Geschichte des Begriffs in den Enzyklika nach dem Vatikanum suchen. Also 1964, lumen gentium und Sacrosanctum Concilium, finde ich “SOlidarität” in der Übersetzung noch nicht. Man sagt aber, dieser Begriff war dann in den Abschlussdokumenten sehr wichtig, vielleicht gab es doch ein Synonym. Vielleicht weiß ein Theologe besser, welche Begriffe das um 1965 noch waren?
Richtig los geht es bei “populorum progressio” von Paul VI. Da kommt sehr viel “Solidarität” vor. Als Vokabel. Dann wirklich auf Ebene der Staaten, Kollektive etc. Und auch Johannes Paul II “sollicitudo rei socialis”, 1987, war doch sehr wichtig. Er hat kein Problem mit Solidarität. Bestimmt kann man ihn weder auf Arbeiterpriester/Marxist noch auf Traditionalist reduzieren.
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Zu Südamerika nur so viel, was mir Sorge macht: auch wenn die katholische Kirche angeblich sehr bei den Armen predigt, der Erfolg ist ja von den Zahlen nicht eingetreten. Es gibt eben eine massive Evangelisierungs- und Missionierungswelle aus USA, Pfigstler /Evangelikale/Mormonen etc. pp.. Diese “wildern” in den ehemals katholischen Bistümer und gewinnen Tausende, Millionen. Das ist betrüblich. Ob LS, die Wende schafft. Wäre zu schön. Ich hab einen Artikel über Sao Paolo im Hinterkopf. Früher waren alle katholisch, heute eventuell 40%. Ein Kahlschlag in einer Generation.
Der viel diskutierte Präsident von Brasilien sagt ja auch, wie bibeltreu er ist, und er ging zu einer US-amerikanischen Freikirche.
Der Begriff “Familie” hilft hier nicht. Soziologisch mag er ein Mittelding sein zwischen Volk/Staat und Individuum, aber gegen Soziologie haben Sie ja was, wenn es um den Glauben geht. Volk ist auch nicht mit Staat gleich zu setzen, das ist ein Anachronismus. Wenn nicht sogar ein tendenziell völkischer Gedanke.
Was den Begriff “Solidarität” angeht: wenn sie das für Frankfurter Schule und Marxistisch halten, dann liegen Sie völlig falsch. Es ist kein deutscher Begriff, sondern älter, dazu noch aus der französischsprachigen Aufklärung stammend. Und auch die greift auf Denkmodelle zurück, die vielleicht anders heißen, aber der Begriff geht darauf zurück.
Dass Sie hier versuchen, ausgerechnet “Solidarität” zu desavouieren, ist schon ziemlich krass.
Zum Thema desavouieren: Die katholische Kirche predigt “angeblich” bei den Armen? Das ist dreist. Aus Nichtwissen – das aus den Zeilen spricht – durch ein eingeschobenes “angeblich” etwas schlecht zu reden, ist schlimm.
Es genügt aber nicht, “den Armen” nur zu preigen sondern man muss ihnen helfen, aus ihre Armut heraus zukommen.
In meinem Beruf, der Sozialarbeit, gibt es den Begriff “Hilfe zur Selbsthilfe”, dh., man bietet zunächst Hilfe an, schafft dann aber Voraussetzungen, die es dem “Hilfeempfänger” ermöglichen, aus der Abhängigkeit heraus zu kommen und nach und nach (wieder) auf eigenen Füßen stehen zu können, also von der Hilfe mit der Zeit unabhängig zu werden., soweit das möglich ist, natürlich.
Es geht also nicht darum, die Armen, denen man predigt, dauerhaft in Armut zu halten, es geht auch nicht darum, dauerhaft nur Almosen zu verteilen.
Exakt oder mit den Worten Lessings: Die eigentlich gute Tat sei die, das, was man allgemein gute Taten nennt, soweit irgend möglich überflüssig zu machen (vgl.: https://www.cfvw.org/startseite/gesellschaft/aufruf/aufruf-detail.html).
Ich muss gestehen, dass ich viele Dikussionen hier nur noch überfliege – das aber mit großer Neugierde: Es ist schon faszinierend zu beobachten, wie die Community von der sehr konkreten und aktuellen Themenvorgabe „Lebens-Wert“ zielstrebig auf die Kirchenväter zusteuert, um dann mit dem Vaticanum II ihre tiefschürfenden theologischen Überlegungen sozusagen als Prolegomena für die Behandlung der Ausgangsfragestellung abzuschließen. Dass dabei das Problem der Solidarität quasi en passant und mit einer vollständigen Ignoranz gegenüber der Nachbardisziplin Soziologie abgehandelt wird, ist dann mehr als ärgerlich.
Nur zur ersten Information, quasi als Einstieg: In der Soziologie unterscheiden wir zwei Dimensionen der Solidarität, die zueinander komplementär sind. Wir kennen eine Solidarität auf der Basis des Austauschs und gemeinsamer Interessen. Diese Solidarität entsteht, wenn sich der eine von dem anderen Nutzen verspricht, auch wenn das nur temporär gilt. Ein Beispiel ist das Thema Gesundheit in der Corona-Krise: jeder hat ein Interesse daran und muss darauf vertrauen können, dass sich der andere gesundheitsbewusst verhält. Vertrauen ist deshalb die zweite Dimension der Solidarität, die nicht auf Unterschiedlichkeit sondern auf Ähnlichkeit beruht. Sie bildet die Grundlage für eine dauerhafte Solidarität. Im Übrigen liegt hier für die Soziologie die Bedeutung der Religion.
Und damit komme ich zu dem Punkt, den ich schon einmal in diesem Blog angesprochen habe: Leider Gottes bewegt sich die Kirche in ihren Überlegungen nur auf der Ebene gemeinsamer Interessen. Sie geht der Frage nach, was wir tun müssen, um trotz der Messen, die wir künftig gemeinsam feiern werden, von Coraon verschont zu bleiben. Natürlich müssen hier vertretbare Lösungen gefunden werden, Wo bleibt dabei aber das grundsätzliche Vertrauen in das verantwortliche Handeln der Gottesdienstbesucher, wo bleibt die Grundüberzeugung, dass zwischenmenschliche Kontakte primär heilsam sind und gerade deswegen auch zu einer Messfeier dazugehören?
Um noch konkreter zu werden: Die Karnevalvereine in Köln und Düsseldorf wissen, dass Corana so schnell nicht wieder von der Tagesordnung verschwinden wird. Sie wissen aber auch, dass körperliche Nähe unbedingt zum Karneval dazugehört (hier sollte die Kirche mal zuhören!). Deshalb machen sie sich heute schon Gedanken darüber, wie die Session 20 / 21 ablaufen könnte. Die Überlegungen gehen in die Richtung, das gesundheitliche Risiko dadurch einzugrenzen – nicht: auszuschließen! – , dass die Veranstaltungen in die Viertel, in die Nachbarschaften, in überschaubare Gruppen hinein verlegt werden. Wäre das nicht auch ein Modell für unsere Messfeiern?