Entsolidarisierung ist der Trend. Immer mehr Wähler interessieren sich für Parteien und Gruppen, die das Eigene gegen den Anderen in Stellung bringen und so Schutz, Sicherheit und vor allem Identität versprechen.
Manchmal geschieht es subtil, andere Male eher brachial: das Andere wird als Gefährdung wahrgenommen, aber anstatt Solidarität dagegen zu setzen, positiv zu bleiben, ist im Augenblick das Gegenteil in Mode.
Ich zugeben, dass das Bestehen des Papstes auf Solidarität mich etwas überrascht hat. Bereits 2013 hat er immer und immer wieder darüber gesprochen, und zwar hat er es So-li-da-ri-tät genannt. Genau so wie ich es schreibe hat er es mehrfach ausgesprochen, jede Silbe einzeln, immer mit voller Betonung. Vielleicht hatte ich etwas naiv angenommen, dass diese Solidarität so etwas wie ein Grundstein unseres zivilisierten Handelns geworden sei, nicht immer perfekt, aber immerhin doch nicht anzuzweifeln. Die vergangenen Jahre haben uns alle eines Besseren belehrt.
Es sei geradezu ein „Schimpfwort“ geworden, diese Solidarität, sagt der Papst. Schauen wir aber genauer hin, woher das Schimpfen kommt: „Für die Wirtschaft und den Markt ist ‚Solidarität’ fast ein Schimpfwort“ hat der Papst gesagt, in einer Videobotschaft war das, in einer kurzen Auslegung der katholischen Soziallehre.
Das Eigene und das Andere
Hier geht es also um mehr als nur um die eigene innere Haltung. Hier geht es um Dynamiken, die es uns schwer bis unmöglich machen, solidarisch zu sein. Hier geht es um eine Vorstellung von Gesellschaft, die auf der Wirtschaft des Gewinns aufbaut. „Heute gelten Jugendliche und Alte als Ausschuss, weil sie nicht der Produktionslogik einer funktionalistischen Sicht der Gesellschaft gehorchen. Man sagt, sie sind „passiv“, sie produzieren nicht, in der Ökonomie des Marktes sind sie keine Subjekte der Produktion.“
Jetzt könnte man in die Länder schauen, in denen Entsolidarisierung gerade Wahlen gewinnt: sei es in Großbritannien, dass keine Menschen mehr aufnehmen will, sei es auf den Front National, auf Geert Wilders in den Niederlanden, auf Trump und seine Mauer, und und und.
Solidarität bedeutet schlicht sich etwas, was nicht das eigene Problem ist, zu Eigen zu machen. Das Andere also, das mir gegenüber tritt, wird durch Solidarität seines Charakters als „anders“ nicht beraubt, aber anstatt gefährlich zu sein, tritt Hilfe oder Akzeptanz oder was auch immer dazu. Auf jeden Fall etwas Positives.
Positiv!
Noch einmal zurück zum Thema „Schimpfwort“: in einer anderen Ansprache geht der Papst von hier aus noch einmal zu einem anderen Thema. Solidarität ist nicht nur zutiefst menschlich, sie ist auch christlich. Das Wort „Solidarität“ sei „unser Wort“, so der Papst schon im September 2013 beim Besuch eines Flüchtlingszentrums hier in Rom. Die Armen seien „unsere besonderen Lehrer in der Gotteserkenntnis“, ihre Einfachheit reiße „unserem Egoismus und unseren falschen Sicherheiten die Maske herunter“. Sie führten uns „zur Erfahrung der Nähe und Zärtlichkeit Gottes“. Und dann ein Schritt weiter: „Andere aufzunehmen reicht nicht. Man kann jemandem nicht einfach nur ein Brötchen geben, wenn man ihm nicht auch die Möglichkeit gibt, mit den eigenen Beinen zu laufen. Eine Nächstenliebe, die den Armen so lässt, wie er ist, reicht nicht! Wahre Barmherzigkeit, wie Gott sie uns gibt und lehrt, verlangt nach Gerechtigkeit. Der Arme soll einen Weg finden, kein Armer mehr zu sein.“
Also spielt da auch Gott eine Rolle. Oder besser: Unser Weg der Gotteserkenntnis. Drehen wir das um: Wer entsolidarisiert agiert, oder gar entsolidarisierend, verhindert Gotteserkenntnis. Die eigene und die anderer.
So viel zur angeblichen Verteidigung des „christlichen Abendlandes“.
Solidarität ist der Widerstand gegen all diese Trennungen, gegen all diese Versuche, das Eigene auf Kosten des Anderen zu schützen, sei es in der Wirtschaft, sei es in der eigenen Identität.
Das ist keine Anleitung zur Blauäugigkeit, mindestens die Bemerkung des Papstes, dass wahre Barmherzigkeit auch Gerechtigkeit einschließt und die Mühe darum, dass der Arme kein Armer mehr ist, gibt den Hinweis: Klugheit und Nachhaltigkeit und all das bleiben nicht außen vor.
Aber ohne sie, ohne die Solidarität mit dem Anderen, bleiben wir blind. Und zwar letztlich für Gott.
Von den 842 Menschen, die im Jahr 2014 im Vatikan lebten,
hatten 572 die vatikanische Staatsbürgerschaft, die jedoch
immer nur auf Zeit und an eine Funktion gebunden verliehen wird.
In Sachen Zuzug ist man weltweit mit So-li-da-ri-tät recht sparsam.
Ein gerne benutztes Argument. Nur trifft es nicht: Vatikan, Bistum Rom und katholische Kirche ganz allgemein kümmern sich in der Stadt sehr wohl um Flüchtlinge, beginnend im Land von wo sie fliehen wollen, auf der Flucht, bei der Aufnahme etwa in Lagern, dann in der Stadt oder in anderen Städten. Ihr Argument trifft nur, wenn sie all diese Aktivitäten absichtlich ignorieren.
“Der Arme soll einen Weg finden, kein Armer mehr zu sein.“
>Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.<
Eigentlich preist Jesus die Armen grundsätzlich selig. Von den Reichen ist in den Seligpreisungen nicht die Rede. Rät Jesus hier nicht definitiv davon ab, nicht mehr arm zu sein? Oder war ihm die Solidarität schnuppe? Ging es ihm überhaupt um solidarisches Handeln, oder vielmehr um die Erlösung und das die armen Menschen dieser Erlösung viel näher sind als die reichen? Können sie den Widerspruch, den vielleicht nur ich sehe, aufklären?
Darf ich meine Erklärung anbieten?
Unser Leben spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Die Ebene, auf der es uns auf unsere Stellung in der Gesellschaft und unser Wohlergehen geht, und die Ebene, auf der wir am Absoluten teilhaben. Im täglichen Leben sind sicher die glücklicher, die reich sind, denn ihnen geht es materiell und gesellschaftlich meist besser. Auf der spirituellen Ebene aber lenkt jeder Besitz unsere Aufmerksamkeit vom eigentlichen Kern unseres Personseins ab.
Meine Mutter sagte mir immer: Sei froh über alles, was Du nicht hast! Weil die Dinge, das Ansehen, ja auch die Gesundheit sich so in den Mittelpunkt drängen, daß man darüber den Urgrund der eigenen Existenz vergisst.
Es geht also nicht darum, daß man unbedingt arm sein muss, um sensibel für die Botschaft Gottes zu sein, aber geistig arm, also nicht mit seiner Seele an materiellen Dingen hängt.
Es ist doch logisch, daß sich ein Besitzloser leichter tut, alles zurückzulassen, als ein Millionär. Jesus will, daß auch der Millionär so frei ist wie der Arme automatisch ist. Natürlich ist auch der Arme nur dann frei, wenn sein ganzes Denken nicht ums Reichwerden kreist. Dann ist er nämlich auch nicht geistig arm, er ist in seiner Phantasie ein Reicher, der nur noch nicht am Ziel ist. Das kann dann genauso schwer sein.
Fazit: man muss sich von seinen Illusionen freimachen, insbesondere von der, man könnte außer seiner unsterblichen Seele irgendetwas besitzen.
So sehe ich das.
Danke für die schlüssige Antwort.
Gegen die Unterbringung auf fremden Staatsgebiet, in fremden Städten
und fremden Lagern hat auch kein anderer Staat der Welt Vorbehalte.
Was würde gegen die Vergabe von etwa 100 Staatsangehörigkeiten
und Aufenthaltsbewilligungen auf dem Staatsgebiet des Vatikan
sprechen? Vielleicht gar an Angehörige anderer Religionen.
Näher könnte interreligiöse Erfahrung gar nicht sein.
Arbeitsplätze gibt es auch ausreichend.
Dagegen spricht, dass es im Vatikan schlicht nicht die Infrastruktur gibt, die nötig ist. Angefangen von Raum, Schulen, Sanitär, etc. Die Kirche setzt unendlich viele Mittel – ehrenamtliche Arbeit, finanzielle Mittel etc. – für Flüchtlinge und Migranten ein und braucht sich auf diesem Gebiet wirklich nicht zu verstecken.
Diese Infrastruktur muss auch in allen anderen Staaten zusätzlich
geschaffen werden. In Deutschland wurden für Flüchtlinge 22 Milliarden im Jahr 2016 aufgewendet. Das ist gelebte Solidarität.
Wobei in Deutschland die Kirchen nicht nur ehrenamtlich engagiert sind, sondern Vergütungssätze in einer Höhe wie nichtkirchliche
Institutionen auch erhalten. In anderen Weltregionen mag das
anders sein.
Dann stellt sich aber die Frage der Verhältnismäßigkeit. Denkmalgeschützte Barocksäle umzubauen würde Unsummen kosten und nur wenigen helfen. Für das gleiche Geld kann man viel mehr Menschen besser helfen, wenn man es anders nutzt. Und genau das geschieht.
Die Kosten für Neubauten auf vorhandenen Grünflächen liegen in
London, Hamburg, München oder im Vatikan auf ähnlich hohem Niveau.
Wo ein politischer und solidarischer Wille ist – ist auch ein Weg.
Auch London, Hamburg oder München könnten für das gleiche Geld
andernorts besser helfen. Bedürftige Menschen bekommen dort ein
Aufenthaltsrecht und auch Pässe nach gewisser Zeit. Das darf
durchaus auch So-li-da-ri-tät nennen.
Eben. Dort, wo es sinnvoll ist. Mir ist lieber, dass effektiv geholfen wird, als dass für eine bloß symbolische Handlung Unsummen ausgegeben werden. London, Hamburg und München sind Wohn-Orte. Das ist der Vatikan nicht.
Wie kann ich Gott tiefer erleben? Neues mit/durch ihn entdecken?
Ist, “alle sollen eins sein” (Joh.17,21) nur Fake? – Danke!
Sorry, aber wenn jemand das Wort Solidarität verwendet, wandert meine Hand reflexartig an die rechte hintere Hosentasche, um sich zu vergewissern, daß er mein Portemonnaie noch nicht geraubt hat.
Nationalismus- Abschottung- Mauern- Ent-solidarisierung etc.
sind nur andere Begriffe
für die VERNEINUNG GOTTES, also eines BEWWUSSTEN ATHEISMUS
“Aber ohne sie, ohne die Solidarität mit dem Anderen, bleiben wir blind. Und zwar letztlich für Gott”
Oder auf französisch:
“Solidaire ou solitaire”
(Albert Camus)
…wobei die Einsamkeit nicht nur eine Menschen- sondern durchaus auch eine Gottesferne implizieren kann.