Wir streamen Gottesdienste und freuen uns, dass es so viele neue Initiativen gibt, die uns in Corona-Zeiten das Kirche-Sein ermöglicht. Vielleicht nur als Übergang, vielleicht mit ganz neuen Ideen, aber hier ist ein Schub zu erkennen. Vernetzte Religion bekommt auf einmal eine ganz neue Wucht.
Vernetzte Religion
Gut oder nicht gut? Wie immer ist das nicht eindeutig zu entscheiden. Klar ist aber, dass das alles nicht einfach eine Verlegung des Bisherigen ist. Das neue Medium prägt Religion und wird das zunehmend tun. Dazu habe ich so meine Gedanken, ich formuliere sie mal als These. Das mache ich nicht zum ersten Mal an dieser Stelle, aber auch unter Einbeziehung jüngerer Erfahrungen „aus diesen Zeiten“ würde ich sie halten und zur Diskussion stellen.
These 1, oder die Frank Schirrmacher These
Es gibt vor allem in den USA die Vorstellung, die Zunahme der Wichtigkeit des Internets führe gleichzeitig zu einer Abnahme der Wichtigkeit von Religion. Untersuchungen glauben, das auch belegen zu können. Die Begründung dahinter: Religion wird durch Wissen besiegt, Internet stellt Wissen unkontrolliert und unzensiert zur Verfügung, daraus folgt eben ein Mehr an Aufklärung. Hier interessiert mich die zweite Annahme: Internet stellt Wissen zur Verfügung. Das tut es nämlich nicht, jedenfalls nicht so einfach und deutlich.
Sie kennen das Phänomen: Sie buchen eine Reise, sind dann bei Amazon unterwegs und bekommen Bücher zum Reiseziel angeboten. Algorithmen bestimmen, was wir zu sehen bekommen.
Dazu kommt: In den USA gibt es bereits Software, die Nachrichten schreibt. Das geht schneller, als einen Redakteur dran zu setzen. Packen wir das eine mit dem anderen zusammen, dann gehört nicht viel Phantasie zur Vorstellung, dass in nicht allzu langer Ferne jeder von uns spezifische Nachrichten generiert bekommt. Sprachstil und Inhalt, je nach eigenen Präferenzen. Sie bekommen dann von der gleichen Seite zum gleichen Thema eine andere Meldung als ich geliefert, Frank Schirrmacher (verstorbener FAZ-Herausgeber) hat das in Buch und Interview ausgefaltet, deswegen habe ich die These nach ihm benannt.
Weswegen das wichtig ist: Die Orientierung nach der Algorithmen Dinge für uns aussuchen ist der Konsum. Und eben nicht die Aufklärung. Auf die Religion angewandt: Es entsteht im Netz eine marktgerechte und konsumorientierte Form von Religion und Religionsdiskurs.
These 2, oder die Blog-These
Seit 2011 betreibe ich meinen eigenen (diesen) Blog. Da versammeln sich in der Kommentar-Spalte alle möglichen Meinungen. Und wenn ich im Netz auf anderen Blogs herumlese, oder besser noch auf anderen sich mit Glauben und Kirche befassenden Seiten, dann zeigt sich ein Bild: Selten kommt es zu einer wirklich interessanten Debatte. Web 2.0 ist also noch weit weg, wirkliches Engagement wird nur von einer wirklich sehr kleinen Gruppe betrieben.
Eine kleine Begebenheit: Bezüglich der Friedensgebete für den Nahen Osten im Vatikan hatte ich das Beten der Sure durch einen Imam verteidigt. Daraufhin kamen die üblichen Muslim-ist-böse Kommentare. Ich habe einen Islamwissenschaftler gefragt, der das erklärt hat. Und darauf kam dann der Kommentar eines Users, die Zeit der akademischen Wissenschaft sei vorbei, sie werde abgelöst durch den Privatgelehrten (wörtliches Zitat), der sich seine Informationen selbst besorge und nicht im Elfenbeinturm lebe. Also: Keine wissenschaftlichen Standards mehr, keine peer-control, jeder darf sich seine Welt und sein Wissen zusammen basteln. In Bezug auf die Religion: Alle sind wir auf einmal Fachleute. Begründungen, Wissen, Argument, rigoroses Denken, intellektuelle und akademische Ausbildung, das alles wird weniger wichtig. Religion wird zu einer persönlichen Welt, widi-widi-wie sie mir gefällt. Und das ist schädlich.
These 3, oder die Freiheits-These
Früher haben Journalisten entschieden, was Nachricht ist und was nicht. Journalisten haben Kriterien, etwas kommt in die Sendung oder ins Blatt, etwas anderes nicht. Medien hatten früher die Hoheit über Themen, Selbstbefragung und Selbstauslegung der Religion in den Medien fand nach den Regeln der Journalisten statt. Das ist nicht mehr so.
Ein Beispiel: Als der Papstwechesel 2013 anstand, hatten die meisten Redaktionen in Deutschland das nicht für wirklich interessant gehalten. Die Menschen aber schon, das Internet hat das Interesse widergespiegelt und die Redaktionen mussten hinterher laufen.
Es gibt kein Leitmedium mehr, das die Menschen und ihr Interesse ignorieren kann, Religion ist interessant, egal ob es den Nerds bei diversen online-Medien passt oder nicht. Das schafft Freiräume für mehr Diskurs.
Sie sehen, nicht alle meine Thesen sind negativ.
These 4, der die Zoo-These
Es ist ein Zoo da draußen. Es gibt Kampagnen und reine Kampagnen-Webseiten zu Religion und vor allem Kirche im Internet, Pöbeleien, jegliche Form von Schmähungen. Es gibt die Erregung, die Lautstärke, die Irren und Wirren, all diejenigen, die uns nicht denken lassen wollen sondern irgendwelche Gefühle, vor allem Angst, ansteuern. Das gibt ihnen nämlich Macht.
Da gibt es Goodwin’s law auch in Bezug auf die Religion.
Da gibt es, was ich „Relevanzverwirrung” nenne, also das Durcheinander von Bedeutungen. Was bedeutet was für was?, da wird gerne mal ein Kurzschluss für einen Geistesblitz gehalten.
Da wird souverän von Inhalt auf Person umgestellt, man spielt den Mann, nicht den Ball, um aktuell zu sein.
Das macht etwas mit Religion, das lässt uns in der Wahrnehmung wie komische, wirre, merkwürdige und manchmal bösartige Diskurse erscheinen.
Das macht etwas mit Religion, vor allem der organisierten Religion, vor allem auch mit inner-religiösen / interkirchlichen Diskursen.
These 5, oder die neue-Heiden These
Es entstehen neue Religions-Cluster, Verbindungen, Gruppen, Interessen, die sich nicht an den traditionellen Vergemeinschaftsungsmustern und Hierarchien orientieren. Christen, die an Reinkarnation glauben oder an Astrologie, Neuerfindungen des Heidentums mit Druiden und so weiter. Neue Religionsformen entstehen, allerdings ohne „Realität”, also ohne Gemeinschaft, ohne die Schwierigkeiten des Alltags, ohne all das, was Religion ausmacht.
Online-Rituale wie etwa Postings für Verstorbene sind zwar bislang nur ein Randphänomen, nehmen aber zu und werden prägender. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, über das Netz einen „Tzetel” in der Westmauer, der so genannten Klagemauer, in Jerusalem zu hinterlegen. Oder in einem online-Hindutempel kann man Rituale per Kreditkarte ordern.
Das wird Auswirkungen auf die realen Religionen haben. Welche genau, das wissen wir noch nicht. Das testen und probieren wir noch, die Corona-Dynamik schiebt uns da mächtig an.
Die Druckerpresse Ende des 15. Jahrhunderts veränderte Religion, das Sprechen und das Nachdenken über Religion. Jeder konnte auf einmal eine Bibel in der Hand halten (wenn er oder sie das Geld dazu hatte), Wissen wurde in bis dahin unbekanntem Maß verbreitet.
Bildung, Bildung, Bildung
Genau dasselbe geschieht nun durch das Internet. Europa reagierte damals auf diese Verbreitung des Wissens mit der „Erfindung” der Schule, wie wir sie heute kennen. Dasselbe muss meiner bescheidenen Meinung nach heute geschehen.
Schlussthese: Die richtige Weise des Umgangs und damit der positiven Nutzung des Internets für Religion und darüber hinaus für Glauben lautet: Bildung, Bildung, Bildung.
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Zur Transparenz: Die Thesen sind eine Überarbeitung von Thesen, die ich hier 2014 das erste Mal vorgelegt habe.
Die wichtigste Form der Bildung bleibt in Ihrer Schlussthese unerwähnt: die Herzensbildung. Denn ohne sie bleibt jegliche andere Bildung schal und ohne Wurzeln. “Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.”
Da stimme ich zu!
Die aufgezeigte Problematik könnte man wunderbar an den derzeitigen öffentlichen Diskursen zu den armen Virologen in der Politik exemplifizieren.
Nur: wie kann das Problem angegangen werden?
Wenn schon ErzieherInnen bei Dreijährigen verminderte Sprachfähigkeit feststellen,
wenn Erwachsene nicht mehr willens oder fähig sind, eine DIN A 4 Seite Text zu lesen?
Warum beherrschten bis in die 60er Jahre selbst Kinder aus “bildungsfernen” Elternhäusern mit Abschluss der Hauptschule Rechtsschreibung und Zeichensetzung (was i.E. bedeutete, dass sie Gedankengänge strukturieren konnten), während sich heute Studenten beschweren, wenn sie in Prüfungen komplette Sätze formulieren sollen? Vielleicht nicht die an philosophischen Hochschulen, aber doch solche, die Politik oder Geschichte studieren? Grundsätzlich würde ich unterstellen, dass Lehrer heute besser ausgebildet sind als früher – aber warum ist das Ergebnis eher schlechter??
Es hilft nicht, sich über die Trumps dieser Welt und ihre fakenews zu erheben: wir sind selbst mittendrin.
Wie lernen wir wieder zu differenzieren? Bzw wie erlangen wir überhaupt erst in der Breite wieder die Voraussetzungen, um differenzieren zu können? Um den Unterschied zwischen Konsum und Aufklärung wahrzunehmen??
Mit Dank für den Beitrag und ratlosen Grüßen!
Lieber Pater Hagencord,
Danke für die interessanten Überlegungen zu „Internet und Glaube“.
Ja, ich sehe das auch so, dass Religion im Internet gefragt ist. Besonders Sinnfragen und gute Analysen für Beziehungsprobleme, für die auch Hilfen mit der spirituellen Dimension angeboten werden, werden angeklickt.
Meine Homepage mit solchen Angeboten wird täglich durchschnittlich von 900 bis 1000 Personen besucht.
Da habe ich z. B. meine Antworten zu Fragen, die mir Schüler im RU zum naturwissenschaftlichen Weltbild und dem christl. Glauben gestellt haben, veröffentlicht – und meine Hilfsangebote für Anliegen von Erwachsenen zu Beziehungsproblemen.
Was mir besonders aufgefallen ist: In den Pfarreien werdenVortragsangebote zu reinen Glaubensfragen kaum mehr besucht. Es müssen immer Themen sein, die den Glauben mit Lebensfragen verbinden: Evolution und Glaube, Psychologie und Glaube usw.
Aber im Internet stelle ich fest, dass auch reine Glaubensthemen gefragt sind, vor allem auch biblische Themen. Aber sie müssen immer kritisch-rational und spirituell hilfreich sein!
Was mich erschreckt: Viele kirchliche Gruppierungen im Internet sind extrem konservativ und in Auseinandersetzungen sehr aggressiv und werfen mit Beleidigungen und negativen Verallgemeinerungen um sich.
Man sollte meiner Meinung nach im RU, in kirchlichen Schulen und Fakultäten dies gründlich analysieren und intensiv gewaltfreie und abwertungsfreie Kommunikation einüben! – Das wäre ein ganz wichtiger Beitrag der Christen in einer Informationsgesellschaft.
Mit herzlichen Segenswünschen
Manfred Hanglberger
http://www.hanglberger-manfred.de
Hier meine Gedanken zu den 5 Thesen:
1. These: Religion wird durch Wissen besiegt, das vom Internet zur Verfügung gestellt wird
Das Internet stellt zunächst Informationen zur Verfügung, die in einen Kontext gestellt werden. Erst in diesem Kontext werden Informationen als Wissen erlebt. Das Internet ist also ein Medium, das Kontexte generiert, die nach der Logik seiner Algorithmen per se widerspruchslos sind. So entsteht der Eindruck, dass die Informationen wahr sind, also gesichertes Wissen darstellen. Mit diesen maschinell und häufig auch gezielt erzeugten künstlichen Informations-Kontexten sieht sich nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religion konfrontiert. Beide sind dabei, sich auf diese neue Herausforderung einzustellen.
2. Kommunikation in Diskussionsforen: Die sich selbst verstärkende Meinungsbildung
Wenn sich Informationen widerspruchslos zusammenfügen, wird dies als Hinweis auf ihren Wahrheitsgehalt erlebt. So entsteht in den Blogs ein Sog in Richtung Konformität. Abweichende Meinungen werden häufig mit erheblicher Aggressivität bekämpft, denn sie gefährden das Gefühl der Sicherheit, das der Besitz der Wahrheit mit sich bringt. Die Kirche sollte ich hier ertappt fühlen, denn auch sie beansprucht, Hüterin der Wahrheit zu sein. In dem Maße, wie die kritische Öffentlichkeit lernt, mit den im Internet aufsteigenden Wahrheitsblasen kritisch und kompetent umzugehen, wird auch der Wahrheitsanspruch der Religion einem Stresstest unterzogen.
3. Freiheits-These: Themensetzung durch das Internet
Hier ist der immanente Korrekturmechanismus des Internets am Werk: Die Wahrheitsblasen müssen ständig damit rechnen, mit Nachrichten von außerhalb konfrontiert zu werden, mit denen sie intern noch nicht gerechnet haben; also eine ständige Anspannung, sie möglichst in Echtzeit in das eigene Wahrheitsmodell einzuarbeiten oder aber sich davon abzukapseln. Und das Ganze wird von außen, von den Bewohnern der anderen Wahrheitsblasen, beobachtet. Man fühlt sich schnell der Lächerlichkeit ausgesetzt, was dann zu aggressiven und sich wechselseitig verstärkenden Gegenreaktionen führt. So schaffen die Blasen eine von Aggression und Misstrauen geprägte Welt, in der sie und mit ihnen auch alle anderen dann leben müssen.
4. These: Der Zoo oder der Kurzschluss als Geistesblitz
‚Das Spannende im Internet sind nicht die einzelnen Argumente, die dort vorgetragen werden, sondern wie sie sich zu Wahrheitssystemen (Blasen) verdichten. Wir können beobachten, wie solche Blasen entstehen, und wie dann diese Blasen weiterhin miteinander umgehen. Das Internet ist ein Eldorado für Beobachter, wie der Zoo oder die freien Wildbahn, und als Beobachter verstehen sich die Soziologen.
5. These: Die neuen Heiden
Im Internet ist fast alles möglich, und vieles wird ausprobiert, auch in der Religion. Nur haben die neuen Heiden das Problem, dass es neben ihnen auch die anderen neuen Heiden gibt, wovon sie sich ja ständig selbst überzeugen können. Wie ist es da um die Wahrheit der eigenen Überzeugung bestellt? Der nagende Zweifel ist konstitutiv für die neuen Heiden. Als katholische Kirche sind wir da besser aufgestellt.
Fazit: Bildung, Bildung, Bildung?
Das kommt darauf an, ob Bildung als Endergebnis oder als Prozess verstanden wird: Jemand hält sich für gebildet, oder er bleibt neugierig und lernt ständig dazu. Deshalb ziehe ich als Fazit vor: Lernen, Lernen, Lernen!