Wir brauchen Moral, Hoffnung und solidarische Nähe, damit die Welt nicht auseinander bricht. Auf diese Formel bringt der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf die Notwendigkeit für eine Kirche. In einem Artikel für Christ in der Gegenwart (Nr. 18/2012, S. 189) formuliert er drei Aspekte, wie er es nennt:
Erstens soll die Kirche das Gewissen der Gesellschaft sein, nicht opportun denkend und sprechend. Es brauche Menschen, die „unabhängig vom Nutzen, Zwecken und Vorteilsabsichten“ fragen und denken.
Zweitens könnte die Kirche das Gedächtnis der Gesellschaft sein.
Und drittens die bürokratiefreie Solidarität, die Diakonie, die die Menschlichkeit an die oberste Stelle setzen.
Mich beunruhigen solche Ausblicke auf Kirche. Erzbischof Zollitsch hat das schon vor Jahren so genannt: Die Kirche ist nicht die Bundesagentur für Werte. Wollen wir wirklich eine Funktion von Gesellschaft sein?
Es ist ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden, beitragen zu können, dazu zu gehören. Und diese pragmatische Sicht auf Kirche nimmt die Unabhängigkeit von Kirche sogar Ernst, das ohne Nutzen, ohne Zweck, das Menschlich-Solidarische, all das, was gut ist an unserer Kirche.
Trotzdem überfällt mich da ein wenig Zweifel. Noch einmal die Frage: Sind wir als Kirche eine Funktion von Gesellschaft? Ganz vorsichtig möchte ich die Warnung erwähnen, die im Gedanken des Papstes von der Entweltlichung auch drin steckt: Wenn wir Akzeptanz und Stellenwert und Identität von der Gesellschaft bekommen, wenn wir unsere Stelle von Gesellschaft zugewiesen bekommen, dann werden wir über kurz oder lang auch die Funktionsweise, die Werte und die Denkweise der Gesellschaft in die Kirche übernehmen.
Henning Scherf sagt, dass es eine Kirche braucht, damit die Gesellschaft menschlich, hoffnungsvoll und solidarisch bleibt. Traurig die Gesellschaft, die das nicht von alleine schafft. Eine so stolze, sich selbst modern und human gebende Gesellschaft, die das alles nicht von alleine schafft, braucht Zeugnis und Widerspruch mindestens genauso nötig wie geistige Dienstleistung.
In der Ausgabe von Christ in der Gegenwart gegenüber dem Artikel von Scherf ist eine Analyse der neuesten Sinus-Lebenswelten für junge Menschen, darunter gibt es ein Milieu, das als ‚adaptiv-pragmatisch’ beschrieben wird. Die Beschreibung passt sehr gut auf eine Kirche, die sich so sieht, wie Scherf das vorschlägt, zuvilgesellschaftlich, den Menschen zugeordnet, auf die Gesellschaft schauend. Das „moderne Leben in Wohlstand und Harmonie“ gilt als Maßstab. Das klingt alles sehr vertraut und passt wunderbar auf das Verständnis von Kirche als Wertelieferant. Aber ob es dazu wirklich eine Kirche braucht?
Schlussbemerkung: Das Wort ‚Gott’ kommt in Scherfs Text nicht vor.
Diese Einschätzung teile ich.
Es braucht eine Kirche, damit diese unseligen Euthanasie- und Abtreibungsdebatten und Ausgrenzungsdebatten aufhören. Damit der Mensch es schafft, sich einzulassen auf das, was man am liebsten ganz schnell auf die Seite schafft, weil es dem Fun Prinzip und dem Euch steht alles zu-Prinzip widerspricht. Völlig unrealistisch. Wo gibt es das, nur Vergnügen? Das ist eine riesige Flucht vor der Realität. Weihnachten ist: höherer Umsatz als im letzten Jahr, da gehe ich Jahr für Jahr an die Decke. Dann der übliche Rausch in Gottesdiensten, der allen zusteht, nur; wer produziert den Rausch? Danach wird nicht gefragt. Und wie lange hält er vor?Kirche bietet den längeren Atem, der bis in den Himmel geht, der den Weg ernstnimmt und nicht nur das unrealistische Ziel anstrebt.Kirche ist noch nicht so, dass sie Alternativen zu bieten hätte, die man einfach annehmen muss oder will..wir dürfen nicht von uns ausgehen.
Von den drei Begriffen, die Herr Scherf als notwendigen Beitrag der Kirchen für die Gesellschaft darstellt, also Moral, Hoffnung und solidarische Nähe – sehe ich nur die Hoffnung – die wider allen Anschein der Dinge und Situationen, hier und über die Grenze des Todes auf Wahrheit hofft und DER Liebe vertraut – als eine besondere Gabe Gottes an die Menschen, die wir Christen in unserem Leben als ein solches Geschenk Gottes leben und bezeugen können. – Gleichzeitig teile ich die Sorge einer zu schnellen oder wohlfeilen Übernahme von Funktionalisierungen seitens der Gesellschaft in Bezug auf die christlichen Kirchen, in denen sie “domestiziert” – und ihrer prophetischen Freiheit und ihrer Unverfügbarkeit beraubt werden könnten.
Gute Tag, liebe Frau Weidner,nicht Moral oder besser Ethik? Was meinen Sie mit Funktionalisierung? Ist es nicht im Auftrag der Kirche enthalten..zu wirken..zu zeigen, wie es anders sein könnte?Das Wort prophetisch erinnert mich daran, dass es eher 5 nach 12 ist als 5 vor 12…also ist Eile geboten.Unverfügbarkeit? Ich sehe die Kirche eher als verfügbar für die Orte und Momente, an denen und in denen sie gebraucht wird.
„Gesellschaft“ ist das eine, Kirche das andere. Beides kann derzeit – weder in Europa, noch in Deutschland, auch nicht im deutschsprachigen Raum – keine Einheit oder Übereinstimmung finden. Vor einhundert Jahren noch, war das anders.
Etwas anderes ist es, wie heute Kirche auf die Gesellschaft wirkt und wie Kirche die Gesellschaft für sich einnehmen könnte. „Könnte“ deshalb, weil sie es auf absehbare Zeit nicht (mehr) kann.
Um als Kirche (besser: der Glaube) wieder wahrgenommen zu werden, bedarf es der Selbstbesinnung und der Selbstreinigung. Um beides bemüht sich der heutige Papst. Dieses Bemühen wird erst dann erfolgreich abgeschlossen sein, wenn der Papst in seinem Bemühen auf keinen Widerstand und Ungehorsam im Kirchenvolk und seinen Laien und Hirten stößt. Kurz, wenn die Einvernehmlichkeit wiederhergestellt ist und die theologischen Geister voneinander geschieden sind und die Glaubwürdigkeit der Verkündigung keinen Zweifel mehr zuläßt.
Denn der Beginn einer Neuevangelisierung ist die Glaubwürdigkeit, die Beständigkeit und die Nachvollziehbarkeit eines Standpunktes aus dem Glauben heraus. Das ist das Thema seit 2000 Jahren. Immer gegen den Zeitgeist und die Zeitgeister. Aus der stoischen Ruhe der unerschütterlichen Überzeugung und Gewißheit wächst die Kraft zu, Einfluß auf das Denken der „Gesellschaft“ zu nehmen und wiederzuerlangen. Die Werte einer Gesellschaft und deren Erhalt ergeben sich dann ganz von selbst. Wirkliche Werte haben nur dann Bestand, wenn ein Verstoß dagegen als Sünde gegen Gottes Gebot verstanden wird.
Der Ausdruck “brauchen” gefällt mir nicht so, ich hatte da einen ganz anderen Beitrag vermutet. Mitgestalten für die Kirchlichen und Aussenstehenden Fragen beantworten.
Der Ausdruck “brauchen” ist richtig gewählt. In der Tat braucht die Gesellschaft eine (diese) Kirche und eine (diese) Glaubensgemeinschaft in ihrer derzeitigen Erscheinungsform nicht. Deshalb wendet sie sich ja ab.
Die Gesellschaft braucht allerdings dringend eine geläuterte Kirche, wie von mir zuvor beschrieben. Es ist also eine Frage der Zeit, wann die Gesellschaft bemerkt, daß sie etwas braucht.