
Man sieht beim Original viel weniger als auf den ganzen Reproduktionen. Das Grabtuch ist beleuchtet ausgestellt, wie ein großer Diakasten steht es im Altarraum des Doms von Turin, das hellste Objekt im ansonsten sehr dunklen Raum. Aber das Gesicht sieht man kaum und auch der Körper, Arme und Beine sind eher zu ahnen als zu sehen. Die Brandspuren geben der langen Stoffbahn so etwas wie eine Struktur und deswegen weiß man, wo man hinsehen muss. Aber wirklich erkennen?
Die Bilder, die im Netz und überall zu sehen sind und die hier in Turin auch an jeder Straßenecke als Postkarte oder Poster angeboten werden, sind da schon ganz anders. Da erkennt man klar die Gesichtszüge und auch die Folterspuren. Eine Art künstliche Realität, die das Gedächtnis abruft und die mit dem echten Tuch nicht so wirklich übereinstimmt.
Deswegen war es doch eine Überraschung, als ich gestern das erste Mal vor dem Grabtuch stand. Wenig Leute waren noch in der Kathedrale, sie wurde geschlossen um den Papstbesuch heute vorbereiten zu können. Es gab also kein Drängeln und keine Eile und tatsächlich so etwas wie eine meditative Stimmung, was ich nicht erwartet hätte.
Aber keine Kerzen-meditative-Stimmung. Normalerweise verbinden wir doch eher warmes Licht und Pflanzen und dergleichen mit Meditation, gedämpfte Musik und so weiter. Das Arrangement in Turin erinnert mich eher an die Kronjuwelen im Tower von London. Nicht der Sicherheit wegen, aber der geregelten Zugänge, der neutralen Umgebung und so weiter. Trotzdem blieb es meditativ. Angenehm meditativ, würde ich in der Rückschau sogar sagen.
Und was ist das nun, was man da sieht? Ikone, wie es bei der letzten Ausstellung 2010 geheißen hatte und was man als Wort zum Beispiel auch für den heiligen Rock in Trier genutzt hatte? Ein Zeuge? Das Gesicht des Evangeliums, wie Johannes Paul II. es genannt hatte? Eine Jesus-Reliquie? Ein Zeichen der Frömmigkeit, Jahrhunderte nach dem Tod Jesu erst erstanden?
Zu entscheiden ist das für uns sicherlich nicht, aber wenn man als Gläubiger Mensch davor steht, dann muss man ja wissen, was das für den eigenen Glauben bedeutet. Man kann das ja nicht einfach nur anschauen, das Grabtuch stellt ja Ansprüche an meinen Glauben. Welche genau, das muss sich vor dem Tuch entscheiden. Glaube ich, dass ich da den Abdruck Jesu sehe? Und wenn ja, was für eine Rolle spielt das für meinen Glauben?
Bei meinen Vorbereitungen für diese kurze Papstreise habe ich diese Fragen gar nicht beachtet und war überrascht von mir selber, als ich dann tatsächlich davor stand. Dann kann man sich nämlich nicht entziehen.
Die einfachste Lösung wäre ja gewesen, das als Objekt zu sehen und zu sagen, ich bin zur Übertragung hier und sollte genau beobachten, um berichten zu können. Mich selber sozusagen raushalten. Ich hätte den „aufgeklärten“ Mitteleuropäer geben können, der das für seinen Glauben gar nicht braucht. Aber das alles schien mir irgendwie feige. Die Frage nach dem, der mich da anblickt, musste ich schon zulassen. Und dann „spricht“ die Sindone, wie das Tuch in Italien heißt, auch irgendwie, es stellt Fragen nach damals und Leiden und Kreuz und Folter und so weiter. Die Vergangenheit ist eben nicht nur das, Vergangenheit. Durch den Verweiser auf Jesus, den für uns Gestorbenen, kommt sie nahe. Und das Grabtuch ist mindestens das: Ein Verweiser auf Jesus. Und es stellt leise die Frage, was das Geschehen damals mit mir hier und jetzt zu tun hat.
Es war eine schöne Erfahrung , eine geistliche Erfahrung. Allein deswegen hat sich das gelohnt. Nicht nur für den Journalisten, auch für den Gläubigen.
Gruss Gott. Das Grabtuch von Jesus ist ein Zeichen für Mensch ,der ohne Glaube in heutiger Zeit lebt. Der Mensch soll auch mit Augen glauben und erzählen ,was er gesehen hat. Ich habe schon über Grabtuch gehört ,auf dem Papier gesehen,und die Echtheit der Wunden angenommen, obwohl ich in der Wirklichkeit dieses Grabtuch nicht gesehen habe. Ich war auch nicht in Turin. Nur den Glauben macht den Mensch neugierig auf göttliche Sachen,dazu die Gnade.
„Das Gesicht des Evangeliums“, das ist eine gute Formulierung. In den Evangelien wird nämlich darauf so gut wie verzichtet, Jesu Gestalt zu beschreiben. Aber gerade das Christentum geht ja von einem Gott bzw. Messias aus, der Mensch geworden ist, einem sichtbaren Gott. Deswegen bestand und besteht so stark das Bedürfnis der Gläubigen nach der wahren Ikone. Es gibt da auch den vermeintlichen „Lentulus-Brief“, ein Schriftstück, das man fälschlicherweise dem Vorgänger von Pontius Pilatus zuschrieb. Erst später stellte sich heraus, dass dieser Text wohl eine Art Meditation über das Aussehen Jesu, eine aus dem 13. Jahrhundert und nicht eine zur Zeit Jesu, darstellt. Der Text ist aber sehr ansprechend:
„Ein mittelgroßer Mann mit stattlicher Figur und sehr ehrwürdigem Aussehen, so dass, die, die ihn sehen, ihn sowohl lieben als auch fürchten müssen. Sein Haar hat die Farbe einer völlig reifen Haselnuss, bis zu den Ohren beinahe glatt, von da abwärts, etwas gelockt, über seine Schultern wallend und nach Sitte der Nazarener in der Mitte gescheitelt. Seine Stirn ist offen und glatt, sein Gesicht ohne Flecken und Runzeln, schön, von angenehmen Rot. Nase und Mund sind so geformt, dass nichts daran zu tadeln ist. Der Bart ist wenig stark, in der Farbe zu den Haaren passend, von nicht sehr großer Länge. Seine Augen sind dunkelblau. Sein Körper ist wohlgeformt und straff, seine Hände und Arme sind wohlproportioniert. Im Tadel ist er furchtbar, im Ermahnen freundlich und einnehmend, in der Regel gemäßigt, weise und bescheiden, vermischt mit Würde. Niemand kann sich erinnern, ihn lachen gesehen zu haben, aber viele sahen ihn weinen. Ein Mann durch eigentümliche Schönheit die Menschenkinder übertrifft.“
Eine schöne menschliche Sichtweise. Er könnte aber auch aussehen wie Sie und Ich oder wer auch immer der mir gerade begegnet. Arm oder Reich oder verkrüppelt.
Ja, wer weiß. Mir gefällt daran, dass Menschen sich dem Bild von Gott irgendwie versuchen anzunähern. Beim Lentulusbrief wundern mich aber besonders die „blauen Augen“. Jesus war doch kein Nordeuropäer.
Weil Sie meinen, er könnte auch aussehen wie Sie und ich: persönlich stelle ich mir das irgendwie genau so vor: Wie muss es sein, wenn man nach dem Tod Gott tatsächlich „von Angesicht zu Angesicht“ gegenüberstehen wird? Ich stelle mir – man solch sich ja kein Bild machen, aber irgendwie mach ich mir dann doch eines – also, ich stelle mir Gottes Angesicht dann so vor, als wäre es mir irgendwie vertraut. Vielleicht wird es für jeden Menschen anders sein, so wie das eigene Gesicht, oder so wie das Gesicht eines für einen selbst besonders lieben, wichtigen Menschen. Diese Begegnung stelle ich mir aber unglaublich warm und schön vor.
Mein Mann und ich waren letzten Freitag in Turin und haben das Grabtuch besucht. Man musste eine Stunde Weg hinter sich bringen, bis man vor das Tuch gelangt. Kurz vor dem Tuch wird ein Film mit Erklärung abgespielt, da ohne die vorige Erläuterung wirklich kaum etwas zu erkennen ist.
Wir standen ca. 5 Minuten vor dem Tuch mit einer Masse von Menschen. Eine Meditation wird davor auf italiensich abgehalten.
Wir haben zwar nichts verstanden, aber der Anblick des Tuches hat mich sehr bewegt – sogar meinen protestantischen Mann…
Für micbh ist es nicht wichtig, ob das Tuch nun echt ist oder nicht. Für mich war das, was das Tuch aufzeigt (einen gekreuzigten Menschen) wichtig. Für mich wurde wieder einmal klar, was Jesus für uns Menschen Großes getan hat. Ich bin überzeugt, dass der Glaube auch Bilder braucht, um begreifbar zu werden. Hier wurde mir wieder einmal klar, dass das Christentum keine Lehre ist, sondern eine gelebte Beziehung: Gott hat so sehr die Welt geliebt, dass er für uns seinen einzigen Sohn hergab…..
Wäre es nicht richtiger, von seinem einzigartigen (μονογενής) Sohn zu sprechen, denn woher wissen wir, ob sich Ähnliches nicht auf Planeten bei anderen Sternen ereignet hat oder noch ereignen wird?
Lieber „Vom anderen Stern“!
ich bin hier auf der Erde nicht in der Position zu wissen, zu beurteilen oder darüber zu spekulieren, was auf anderen Sternen geschieht. Ich freu‘ mich aber über jeden, der auch etwas Griechisch kann auf diesem Planeten! Ich meine mit μονογενής ist gemeint ‚aus einem Ursprung gezeugt‘, Gott ist nicht πολύγονος (vielzeugend) wie Zeus, und Jesus nicht έτερογενής (anderen, verschiedenen Ursprungs), wie wir Menschen mit einem Elternpaar, sondern ‚einen Ursprungs‘. Die Wortwurzel entstammt doch von γίγνομαι (zur Welt kommen). Also: Ein Gott, ein Jesus, eine Zeit, ein Sein. Das meinte doch wohl Thomas von Aquin auch so, als er sagte „Esse est inesse“, d.h. wir finden Gott nicht im Weltall, sondern wenn wir in unsere Welt gehen, oder Teresa von Avila, wenn sie sagte, Jesus lebe zwischen den Kochtöpfen. Jetzt genug philosophiert, wieder arbeiten.
Herzlich, Stephan
Substansielles habe ich nichts beizutragen. Wollte nur @ Stephan danken, dass er mich von anderen Sternen, wieder zwischen den Kochtöpfen „landen“ liess. 🙂