Das Ende der Welt ist ein spannender Ort. Mit dem Papst kommen Ideen hierher, die vorher nur Spezialisten bekannt waren. Auch wenn vieles, was als „lateinamerikanisch“ an diesem Papst eingeordnet wird, gar nicht so lateinamerikanisch ist, lohnt es sich doch, immer wieder genauer hin zu schauen, um den Hintergrund zu verstehen, vor dem Papst Franziskus spricht und handelt.
Aparecida und der dort entstandene Text der Bischofskonferenzen des Kontinents ist so ein Beispiel. Die Theologie des Volkes Gottes und Lucio Gera ist ein zweites Beispiel.
Und dann ist da Karl Christian Friedrich Krause. Gestorben 1832 in München war er einer der wichtigsten und wirkmächtigsten deutschen Philosophen. Wie bitte? Doch, richtig gelesen. Weltweit ist die Philosophie Krauses sicherlich in ihrer Bedeutung so wichtig wie die Kants und Hegels, aber die Fragezeichen in den Augen sind berechtigt, bei uns kennt ihn niemand. Oder kaum jemand. Eine Rezeption ist mir jedenfalls noch nicht begegnet. Und doch ist Krause was das politische und gesellschaftliche Denken in Teilen Lateinamerikas und besonders Argentiniens angeht nicht weg zu denken.
Aber auch den Fachleuten in Sachen Papst Franziskus ist Krause nicht immer ein Begriff, blättert man durch die Biographien zu Jorge Mario Bergoglio, dann trifft man aber eher auf Juan Perón, den Peronismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Der frühe, harmonisierende und die Klassenkämpfe ablehnende Peronismus des „dritten Weges“ neben der Ausbeutung durch den Kapitalismus und den Kampf im Sozialismus, mit dem auch die Kirche viel anfangen konnte. Und dann war da der späte Peronismus, der Terror, so dass das Land froh war, dass die Militärs gegen seine Witwe putschten und gar nicht merkte, was für einen neuen Unterdrücker man sich da einfing. Das ist die Referenz und das ist ja auch plausibel, die Vertreibung und später Rückkehr Peróns and die Macht 1973 und den innenperonistischen Kampf und Bürgerkrieg davor und danach erlebte der junge Bergoglio mit.
„El Krausismo“
Somit scheint das politische Denken Bergoglio in Auseinandersetzung mit dem Peronismus beschreibbar oder diskutierbar.
Dabei ist der „Krausismo“ die Staatsphilosophie schlechthin in weiten Teilen Lateinamerikas. Vor allem Argentinien und Uruguay, aber auch Mexiko, Brasilien, Ecuador und viele andere Länder kennen den „Krausismo“ als eine integrierende Philosophie von Gesellschaft und Staat, mit der man viele aktuelle Probleme anpacken und lösen kann.
In Argentinien der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wurde er quasi offizielle Staatsphilosophie, bis die Militärs 1930 putschten. Präsident Raúl Alfonsín berief sich 1983 bei seinem Amtseid ausdrücklich auf Krause als Begründung seiner Erneuerungspolitik: Eine ziemliche Karriere, von 1832 bis heute.
Hinter den Begriff „Krausismo“ verbirgt sich erst einmal Gegnerschaft, und zwar die Gegnerschaft der katholischen Kirche. Sie hat die Werke von Krause erst einmal auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, und zwar wegen seines Pantheismus, der die Notwendigkeit von Gnade und Kirche für das Heil nicht anerkennen wollte. Auf der anderen Seite war die Philosophie Krauses aber auch schnell anschlussfähig an katholisches Denken, vor allem an Vorstellungen von Naturrecht, mehr als etwa Kant, Fichte, Hegel, Schelling und andere deutsche Idealisten. Natur habe ein Eigenrecht, das sich nicht auf Nutzung und Verwertung zurückführen lasse, also auf den Utilitarismus angelsächsischer Natur. Sie ist ebenso wenig dem Geist untergeordnet, wie bei Hegel.
Krause war Freimaurer, auch wenn diese Gemeinschaft ihn herauswarf. Sein Denken – auch das findet man immer wieder – hatte auch seine Schwächen. Trotzdem bleibt es eines der wirkmächtigsten sozialen Vorstellungssysteme mindestens für Lateinamerika und die iberische Halbinsel.
An dieser Stelle kann keine wirkliche Vorstellung des Denkens Krauses probieren, ich habe gerade erst angefangen, mich dort ein wenig hineinzulesen. Aber viele Ideen, die erste Artikel über ihn aus ganz verschiedenen Quellen anbieten, lassen schon Plausibilitäten erkennen.
Sozialreformerisch wirksam
Bei Krause geht es um einen sozialer und politischen „Harmonismus“, also um die Aussöhnung der verschiedenen Interessen. Sein gesellschaftliches Denken sucht bewusst nicht den Klassenkampf und die Auseinandersetzung, der Krausismo wird als sozial integrierende Lehre präsentiert.
Es fallen Begriffe wie Gewissens- und Religionsfreiheit, freiheitliche Selbstbestimmung, dazu die Harmonisierung durch einen koordinierenden, nicht herrschenden Staat. Es ist ein praxisnahes Denken, nicht zu abstrakt, verantwortungsvoll gesellschaftlichen Problemen gegenüber.
Wie gesagt, an dieser Stelle mag ich mich nicht ausführlich dazu äußern, da stehe ich noch am Anfang einer Entdeckungsreise. Aber die scheint sich zu lohnen. Später einmal mehr dazu. Es ist für uns halt Neues vom Ende der Welt.
Links:
Ein Artikel in der Zeit oder ein Artikel aus einer online-Enzyklopädie über Krausismo (spanisch)
Es ist immer ein Freude, wenn man hierzulande von Krause hört. In meiner Dissertation “Alles in Gott? Zur Aktualität des Panentheismus Karl Christian Friedrich Krauses” (Pustest Verlag 2012) habe ich mich in ersten Ansätzen mit der theoretischen Philosophie Krauses auseinandergesetzt. Siehe auch “Gott und die Welt? Bemerkungen zu Karl Christian Friedrich Krauses System der Philosophie.” In: Theologie und Philosophie. Vol. 87 (1), 2012.
Beste Grüße,
Benedikt Göcke
Vielen Dank Herr Hagenkord für diese interessante Spurensuche und viel Erfolg beim weiteren Suchen!
Lieber Pater Hagenkord,
richtig, Sie haben Recht, ich bin schon 78 und habe von dem Philosophen Krause noch nie etwas gehört. Umso interessanter scheint es nun zu werden. Da meine Augen schon nach vier Augenoperationen sehr verbraucht sind und so geschont werden müssen, erwarte Ihre weiteren Ausführungen. Hoffentlich eher meine Tage zu Ende gehen.
Gleichzeitig möchte ich Ihnen und Ihrem Team im Radio Vatikan danken. Jeden Tag lese ich brav Ihr Newsletter, ebenso das von VIS in französisch.
Sonst schaue ich täglich im Internet die Sendung Achtuurjournaal von NOS.nl, und die online Ausgabe einer ungarischen Wochenzeitschrift. Mehr schaffe ich nicht mehr. Und das, was ich dabei vom der heutigen Tagespolitik erfahre, ist schon so deprimierend, dass die Sehnsucht nach mehr schnell vergeht.
Herzlich grüße ich Sie, Gott behüte Sie.
Yvan S. Nagy
D-12161 Berlin, Bundesallee 106