Fortsetung des Interviews
Herr Gruber, wie stark haben Sie die unterschiedlich positionierten Lager auf dem Konzil erlebt?
Da ich selbst nicht in den Sitzungen war und die Verhandlungen nicht miterlebt habe, habe ich das mehr am Rande erlebt. Zum Beispiel natürlich in den Gesprächen der deutschen Bischöfe, die sich jede Woche regelmäßig in der Anima trafen, um das gesamte Konzilsgeschehen zu besprechen. Man war sehr auf die Argumente ausgerichtet, dabei gab es keine persönlichen Abneigungen oder Feindschaften. Auch nicht in der berühmten Geschichte um Ottaviani und Frings. Es waren sachliche Auseinandersetzungen, die um Argumente kreisten und darum, wie diese an den Mann zu bringen waren.
Gab es Ihrem Eindruck nach einen Spalt zwischen den Generationen?
Ich kann nicht sagen, ein Spalt zwischen den Generationen. Im Wesentlichen wurde das Konzilsgeschehen durch die stimmberechtigten Mitglieder geprägt, sprich die Bischöfe und einige Ordensleute, und damit sind schon alle genannt, die ein Abstimmungsrecht hatten das Konzil bestimmt haben. Und das waren ja durchweg Leute in mittlerem und älterem Alter. Die junge Generation als solche war da nicht vertreten. Sie hat schon auch ihren Einfluss ausgeübt, durch die Periti eben, die offiziellen Ratgeber und auch die persönlichen Berater der Bischöfe. Die Bischöfe hatten ja vom Konzil her das Recht, einen Berater ihrer Wahl, einen Professor zum Beispiel, zum Konzil mitzunehmen. Das haben aber viele nicht getan, weil das ja schließlich auch eine Finanzfrage war. Viele Bischöfe und Teilnehmer kamen ja aus der Dritten Welt und hatten da gar nicht so die Möglichkeiten, das zu machen. Von daher war also, kann man sagen, der Einfluss der jüngeren Generation, zu denen damals Leute wie Küng und Ratzinger zählten, schon auch gegeben. Aber nicht im Sinne eines Spalts zwischen den Generationen.
Maßgeblich haben ja die einzelnen Abstimmungen den Konzilsverlauf mitbestimmt. Ging es dabei so aufregend zu, wie wir das heute vermuten?
Einige aufregende Abstimmungen gab es. Und zwar immer am Abschluss der ersten Lesung einer Vorlage. Denn da ging es um die Grundsatzfrage, wird ein Schema, also der Entwurf für ein Konzilsdekret, angenommen oder abgelehnt? Man konnte Annahme für Annahme wählen mit „Modi“, das heißt, dass man einzelne Änderungen dazu wünschte. Aber im Ganzen musste man entweder annehmen oder ablehnen. Man konnte nicht sagen, wie es die Zentralkommission gemacht hatte, etwas soll neu bearbeitet werden. Die Zentralkommission hatte nämlich doch bei den meisten Vorlagen sehr große Bedenken gehabt und das so gesagt. Und in dem Fall hieß ja Neubearbeitung, dass diese jetzt durch eine Konzilskommission, nicht durch eine Vorbereitungskommission, geschehen soll. Insofern war die erste Abstimmung immer die wichtigste.
Mit der größten Spannung wurde freilich die allererste Abstimmung erwartet. Da ging es um die Annahme der Konzilskonstitution für die Liturgie, das war am 14. November 1962, in der 19. Generalkongregation mit 2162 Ja-Stimmen, 46 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen. Damit war deutlich, dass die überwältigende Mehrheit, weit über die Zwei-Drittel-Mehrheit, die gefordert war, hinaus, für die Erneuerung der Liturgie im Sinne dieser Konstitution war.
Bald danach war die erste Abstimmung über die Vorlage von „Verbum Dei“, über das Wort Gottes, über die Heilige Schrift, wo es um das Verhältnis von Schrift und Tradition und um die Schriftauslegung ging, und auch über den Begriff des Glaubens, was Glauben im letzten Sinn heißt. Und damals sah man schon bei der Diskussion, dass eine Mehrheit der Konzilsväter die Vorlage ablehnen will. Das wollten die Präsidenten verhindern. Und um das zu verhinderten, hatten sie dann die Abstimmungsfrage umgestellt. Sie fragten nicht, wer ist dafür, also für die Vorlage, sondern wer ist für die Ablehnung der Vorlage. So brauchte also die Ablehnung der Vorlage eine Zwei-Drittel-Mehrheit und da dachten sie, das kommt dann doch nicht zustande. Es ist auch nicht zustande gekommen, hundert Stimmen fehlten ungefähr, aber natürlich gab es unter den Konzilsvätern eine fürchterliche Aufregung. Manche merkten erst, als sie den Stimmzettel abgegeben hatten, dass sie dem Sinn nach gegen die Vorlage stimmen wollten und mit „Nein“ gestimmt hatten, damit jetzt aber durch ihr „Nein“ die Vorlage angenommen hatten.
Das war natürlich sehr ärgerlich und Manche wollten ihren Stimmzettel noch zurück, aber der war von der Maschine schon verschlungen. Und da hat dann Johannes XXIII. eingegriffen, wohl der einzige Eingriff, den er vorgenommen hat in dem Jahr, wo er noch im Konzil war, wo er noch lebte. Er hat die Vorlage zurückgezogen und eine Neubearbeitung durch eine gemischte Kommission von der Glaubenskommission und dem Sekretariat für die Einheit der Christen, also durch Kardinal Ottaviani und Kardinal Bea gemeinsam, angeordnet. Das war dann auch eine der wichtigsten Entscheidungen für das ganze Konzil. Sein Nachfolger Paul VI. hat ja dann in der Frage der Kollegialität auch eine ähnliche Entscheidung getroffen und eine gemischte Kommission berufen.
Welche anderen deutschen Theologen haben Sie in Rom getroffen?
Ich habe natürlich die Theologen, die Kardinal Döpfner zu seiner Beratung und Besprechung gerufen hat, oder auch diejenigen, die zu den Versammlungen der deutschsprachigen Bischöfe kamen, kennengelernt. Ein paar habe ich ja schon erwähnt, Rahner, Ratzinger, Hubert Jedin, der Fachmann für Konzilsgeschichte, hat für Kardinal Döpfner sehr intensiv gearbeitet, als es um die Neufassung des „Regolamento“, der Geschäftsordnung des Konzils, ging. Paul VI. wollte gleich, dass so etwas wie bei der Abstimmung um „Verbum Dei“ nicht wieder passiert und dass die einfache Mehrheit genügen soll für die erste Annahme einer Vorlage. Da waren dann bei den dogmatischen Vorlagen auch die Jesuiten-Theologen Grillmeier und Semmelroth stark beteiligt, die ich kennengelernt habe. Dann der ostdeutsche Theologe Becker bei der Liturgie. Wir hatten auch Verbindungen zu den Theologen aus Belgien und Holland, Philipps und andere, dann zum belgischen Bischof De Smet, der ja eine große Rolle gespielt hat im Konzil. Von Holland war der Dr. Theissen da, den Kardinal Döpfner aus seiner persönlichen Studienzeit gut kannte, und der im Einheitssekretariat mitgearbeitet hat. Auch zu den französischen Theologen hatten wir indirekt Kontakt. Kardinal Döpfner hat sich sehr oft Rat geholt von den Theologen der Münchner Theologischen Fakultät. Pascher war ja schon während der Dritten und Vierten Konzilsperiode als Mitglied der Durchführungskommission in Rom und da öfter bei Kardinal Döpfner. Mörsdorf hat den Kardinal zum Dekret über die Bischöfe und für andere Texte beraten, war auch mal eine ganze Periode dabei. Schmaus und Fries haben schriftlich dem Kardinal Texte eingereicht, weil sie verhindert waren, nach Rom zu kommen. Der Kardinal hätte sie auch gern in Rom gehabt. Für Priester- und Ordensdekrete hat Jesuitenpater Friedrich Wulff von „Geist und Leben“ in München mitgearbeitet und für das Dekret über den Religionsunterricht war damals auch der sehr bekannte Religionspädagoge Prof. Tillmann beim Kardinal. Ich habe natürlich auch Küng getroffen, der ja ein Jahr nach mir im Studium war. Und so habe ich doch eine Reihe von Theologen persönlich wiedergesehen und neu kennengelernt.
Wurde das Tagesgeschehen untereinander nachbesprochen und diskutiert?
Ja, das ist wohl anzunehmen. […] Ich weiß, dass bei den Konferenzen der deutschsprachigen Bischöfe in der Anima oder auch bei den Versammlungen der Bischofskonferenzen in Deutschland in Fulda, oder in Österreich in Wien, dass da die aktuellen, gerade in Behandlung stehenden Themen sehr intensiv durchdiskutiert wurden. Und dass dazu auch Stellungnahmen eingeholt wurden von Rahner und den übrigen Periti.
Wie haben Sie Rahner erlebt?
Er war eine Zeit lang mal im Germanicum. Ich habe ihn ja schon vorher gekannt. Im Germanicum hat er Exerzitien gehalten, als ich dort Student war. Er ist durch die Zeit hinweg immer er selbst geblieben. Der bescheidene, tiefgläubige Theologe, der die Dinge sehr gründlich durchstudiert und hinterfragt. Er war auch im persönlichen Umgang immer ein sehr bescheidener Mensch. Man konnte mit ihm alles besprechen. Er hat sich alles angehört. Ich weiß auch noch, dass Rahner in dieser Zeit für einen ungarischen Neupriester im Germanicum die Primizpredigt gehalten hat. Weil dieser wegen des Kommunismus keine Angehörigen haben konnte. Das war Rahner.
Fortsetzung folgt ….