Es wird ein Heiliges Jahr: Zum Jahrestag des Abschlusses des Konzils ruft Papst Franziskus ein außerordentliches Heiliges Jahr aus. Das ist eine alte Tradition der Kirche, die ganz besonders feierlich begangen werden. Normalerweise gibt es solch ein Jubiläum alle 25 Jahre, außergewöhnliche Jahre markieren außergewöhnliche Anlässe: Also das Ende des Konzils, und das unter der Überschrift der Barmherzigkeit.
Es ist ein für diesen Papst zentraler Begriff, schon bei seinen ersten Auftritten, etwa bei der Ansprache zum ersten Angelusgebet, was das Thema. „Gott hört nie auf zu vergeben“ ist ein immer wieder genanter Satz.
Bereits seit einiger Zeit liegt Dives in Misericordia auf meinem Schreibtisch, die Enzyklika Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1980 über das göttliche Erbarmen. Was wäre eine bessere Gelegenheit, die jetzt mal aufzuschlagen? Schließlich ist das Sprechen von der Barmherzigkeit ja nicht vom Himmel gefallen, auch bei den Päpsten nicht. Schon Johannes XXIII. war das wichtig, und auch Benedikt XVI. hat mit Deus Caritas Est seinen Beitrag dazu geleistet.
Wir Menschen erkennen Gott darin, dass wir auf Christus schauen: So beginnt Johannes Paul II. seinen Text. Es geht ihm darum, das Antlitz Gottes zu suchen. Gleich also zu Beginn wird Barmherzigkeit ganz eng an Gott geknüpft. Niemand könne Gott sehen, außer „dem einen“, wie der Evangelist Johannes sagt, und wir wiederum könnten ihn „vor allem in seiner liebenden Zuwendung zum Menschen, in seiner „Menschen – Freundlichkeit’“ erkennen: „jene göttliche Eigenschaft tritt hervor, die schon das Alte Testament – in verschiedenen Bildern und Ausdrucksweisen – als ‚Erbarmen’ beschrieben hat. Christus gibt der gesamten alttestamentlichen Tradition vom göttlichen Erbarmen eine endgültige Bedeutung. Er spricht nicht nur vom Erbarmen und erklärt es mit Hilfe von Gleichnissen und Parabeln, er ist vor allem selbst eine Verkörperung des Erbarmens, stellt es in seiner Person dar. Er selbst ist in gewissem Sinne das Erbarmen. “ (Nr. 2, Kursiv im Original). Dabei geht es nicht so sehr um das abstrakte Erkennen und Nachdenken über Gott, sondern ganz praktisch um das „Zuflucht nehmen“ zu Gott.
Die Vorstellung des Erbarmens sei aber heute recht unpopulär geworden, weil wir vor allem eines gelernt hätten: Durch Technik zu kontrollieren. Der Papst zitiert Gaudium et Spes, das Schlussdokument des Zweiten Vatikanums (Nr. 9) und stellt die Barmherzigkeit als einen Widerpart gegen die Kontrolle und Unterwerfung der Welt hin. Wenn ich also Zuflucht nehme und auf Gottes Barmherzigkeit baue, dann entziehe ich der Kontrolle der Welt etwas von ihrer Macht. Genauso handelte Jesus: „Es ist ungemein bezeichnend, dass diese Menschen vor allem die Armen sind, denen es an Lebensunterhalt fehlt; die, welche ihrer Freiheit beraubt sind; die Blinden, welche die Schönheit der Schöpfung nicht sehen können; die, welche in Trauer und Sorge leben oder unter sozialen Ungerechtigkeiten leiden; und schließlich die Sünder. Vor allem für die Letztgenannten wird der Messias ein besonders verstehbares Zeichen Gottes, der Liebe ist, ein Zeichen des Vaters. In diesem sichtbaren Zeichen können die Menschen von heute ebenso wie die Menschen von damals den Vater sehen.” (Nr. 3)
In Jesus offenbart sich also die Liebe Gottes, die eine „wirkende Liebe“ ist. Den Ausdruck mag ich ganz besonders; natürlich gibt es keine wirkungslose Liebe, aber dieser Zusatz weist noch einmal darauf hin, woher die Barmherzigkeit kommt. Eben nicht aus einem Gutmenschentum oder einer Geringschätzung von Regeln.
Die Norm der Gerechtigkeit überschreiten
Und Jesus verkörpert es nicht nur, er macht es auch zu einem „Hauptthemen seiner Lehrtätigkeit“ (Nr. 3). Es ist Lehre Jesu, vielleicht gipfelnd in der Seligpreisung „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5:7).
Papst Johannes Paul II. geht dann durch die einzelnen Bücher des Alten Testaments hindurch, um der Bedeutung von Barmherzigkeit nachzuspüren, und gelangt dann zum Zentralgleichnis seiner Enzyklika: Dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, oder dem Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15:11-32). Der Sohn sei gewissermaßen „der Mensch aller Zeiten“, er stehe für uns alle, „die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde“ (Nr. 5).
„In der Parabel vom verlorenen Sohn wird kein einziges Mal das Wort „Gerechtigkeit” verwendet; gleiches gilt – im Urtext – für das Wort „Erbarmen”. Aber das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich als Erbarmen kundtut, ist dem Inhalt der evangelischen Parabel in großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, dass die Liebe zum Erbarmen wird, wenn es gilt, die – genaue und oft zu enge – Norm der Gerechtigkeit zu überschreiten” (Nr. 5). Der Sohn habe keinen Anspruch mehr auf irgendetwas, er kommt nur zurück, um als Tagelöhner – würdelos im Vergleich zu seinem Sohn-Sein davor – zu arbeiten. Soweit die Gerechtigkeit, auf mehr hat er keinen Anspruch.
Und im Überschreiten der Ansprüche zeigt sich dann die Barmherzigkeit des Vaters, die übrigens auch den älteren Sohn in ihrer Großzügigkeit erzürne, so Papst Johannes Paul in seiner Enzyklika weiter. Der Vater ist sich selber als Vater treu (ein alttestamentlicher Gedanke wird hier aufgenommen), und zwar weil er erkennt, was hier gerettet wird: „der Vater weiß sehr wohl, daß ein grundlegendes Gut gerettet ist – das Mensch-sein seines Sohnes. Mag dieser auch das Vermögen verschleudert haben, sein Mensch-sein ist heil geblieben. Ja, es wurde sozusagen wiedergefunden” (Nr. 6). Es geht also um die Würde des Menschseins. Die Sorge um dieses Menschsein des Sohnes sei der „Maßstab der Liebe“ des Vaters, wie sie auch Paulus beschreibt (1 Kor 13: 4-8).
Und so kommt der Papst zu seinem ersten Schluss: „Das Erbarmen – wie es Christus im Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellt – hat die innere Form jener Liebe, die im Neuen Testament agápe genannt wird. Solche Liebe ist fähig, sich über jeden verlorenen Sohn zu beugen, über jedes menschliche Elend, vor allem über das moralische Elend: die Sünde. Wenn das geschieht, fühlt sich der, dem das Erbarmen zuteil wird, nicht gedemütigt, sondern gleichsam wiedergefunden und „aufgewertet“.“ (Nr. 6)
Aufgewertet
Diesen letzten Gedanken verstärkt der Papst in seinem Schreiben noch einmal: „Unsere Vorurteile in Bezug auf das Erbarmen sind größtenteils das Ergebnis einer rein äußerlichen Wertung. Entsprechend einer solchen Wertung sehen wir manchmal im Erbarmen vor allem ein Verhältnis der Ungleichheit zwischen dem, der es schenkt, und dem, der es empfängt. Infolgedessen sind wir bereit, den Schluss zu ziehen, das Erbarmen demütige den, der es empfängt, es verletze die Würde des Menschen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn beweist uns, dass es in Wirklichkeit anders ist: die Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde.“ Hier zeige sich Erbarmen: Nicht im Blick auf das „moralische, physische oder materielle Übel“, sondern viel tiefer, im Blick auf das Gute, auf das Geschaffensein, die Würde des Menschen.
Der Papst meditiert dann ausführlich Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, anschließend die „Mutter des Erbarmens“, Maria. An dieser Stelle möchte ich das nicht weiter darstellen – der Text würde sonst zu lang – aber ich empfehle den Rest des Textes der eigenen Lektüre.
Der Kern – und hier trifft sich Papst Johannes Paul II. mit den Überlegungen heute um Papst Franziskus – ist der des Verhältnisses von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Johannes Paul misstraut der Gerechtigkeit, nicht aus sich heraus, schließlich ist sie eines der Attribute Gottes. Aber er misstraut dem menschlichen Umgang damit. Schindluder sei getrieben worden und zu oft verwandle sich etwas, was im Streben nach Gerechtigkeit begonnen habe, in Ideologie oder schlimmer Gewalt.
Da liegt wieder der Kontroll-Gedanke zu Grunde: Wenn wir Gerechtigkeit als etwas verstehen, was wir machen, was in unserer Macht liegt, dann geht sie sehr gerne schief. Barmherzigkeit überschreitet das. Da wird nicht mit menschlichem Maß gemessen. Und deswegen übersetze ich Barmherzigkeit so: Mit göttlichem Maß.
Dieses Heilige Jahr der Bamherzigkeit, ein weiteres Zeichen des Papstes, dass er ernst macht, was er verkündet. Ein neuer, guter Schwerpunkt. Danke papa francesco.Ich war sehr ergriffen bei der Ankundigung im heutigen Bussgottesdienst.
Die Barmherzigkeit ist ein hohes Gut.
Aber es gibt Menschen, die würden ihre schrecklichen Taten nicht bereuen wollen, im Gegenteil – sie würden die Greuel wiederholen.
So etwas kann – glaube ich – Gott auch nicht leiden.
Deshalb würde ich solchen Dingen und Menschen lieber aus dem Wege gehen, vielleicht für sie beten und in Gottes Hände legen! Oh je, oh je! Die andere Backe….
Muss man eine Art Hitler lieben?
“Der Himmel bewahre mich vor einem gerechten Gott” ein Satz meiner Mutter, der mich seit langer Zeit begleitet – und dann kann ich um Barmherzigkeit bitten, weil ich mich klein mache, denn ich weiß um meine Sündhaftigkeit … Und was wissen wir von dem, was in Menschen passiert, die im Tod dem barmherzigen Gott gegenüber treten
Danke für die Erinnerung an „ Dives in Misericordia „ ich habe diese Enzyklika mit in die karmelitischen Fastenexerzitien genommen. Nur das unendliche Erbarmen des Vaters lässt mich den Kreuzestod Jesu letztlich verstehen.
Ich habe auch die Frage von @Cornelia Hochgraeber: müssen wir eine Art Hitler lieben, mit in diese Exerzitien genommen. Klar habe ich keine wirkliche Antwort darauf, aber wir „die Menschen“ sollten nicht richten, sondern es der Barmherzigkeit des Vaters überlassen wie er damit umgeht.