Es ist der Wille und die Entscheidung der ganzen Kirche, dass sexueller Missbrauch nie wieder vorkommen, nie wieder vertuscht und nie wieder herungergespielt wird. Papst Franziskus war in seiner Weihnachtsansprache an die Kurie im Vatikan klar und eindeutig, und das nicht das erste Mal. In seinem Brief an die US-Bischöfe in den vergangenen Wochen war er noch einmal konkreter: das Ganze ist keine Organisationsfrage, sondern eine Mentalitätsfrage. Es geht um Bekehrung und Einsicht, letztlich um einen anderen Umgang mit Macht und Autorität.
Es bleibt aber die Frage offen, wie wir das, was an Leid und Verbrechen bislang hat geschehen können, bewerten. Und das unter anderem auch deswegen wichtig, weil wir nur durch Verstehen von Missbrauch effektiv verhindern können, dass es wieder passiert. Das gilt vor allem für die Konferenz, die zu den Themen Kinderschutz, Aufklärung und Prävention von Missbrauch im Februare hier im Vatikan stattfinden wird.
Missbrauch durch Verstehen verhindern
Nun taucht in den vergangenen Monaten immer wieder eine Deutung auf, die mich etwas unruhig macht. Fast schon zur Karrikatur verzerrt etwa in den diversen Briefen des ex-Nuntius Viganò. Oder in Interviews. Aber auch in eher ruhigen Analyse-Stücken wie etwa dem von George Weigel, einem US-Journalisten und Papst-Kenner, jedenfalls was Johannes Paul II. angeht.
Bleiben wir bei Weigel: der spricht über die Konferenz im Februar und fordert, dass die Beschlüsse oder Beratungen die empirischen Ergebnisse reflektieren müssen. Das fällt zusammen mit zwei weiteren Forderungen Weigels, nämlich der nicht auf ideologische Lösungen zu setzen und damit eigene Interessen in die Debatte einzuschleusen (Stichwort Abschaffung des Zölibats), sowie genau hinzuschauen, was zur Krise hat führen können, „Klerikalismus!“ zu rufen reiche nicht aus. Soweit, so richtig.
Kinderschutz und Homosexualität
Dann aber sagt Weigel, dass man mit Blick auf die Daten nicht von „Kinder“-Schutz sprechen könne, es gehe vor allem (und er spricht von der katholischen Kirche) um Jungen. Außerdem sei das Sprechen von Pädophilie in diesem Zusammenhang falsch. Es gehe um heranwachsende Jungen und junge Männer, die Opfer von Missbrauch geworden seien.
Das Narrativ dahinter wird deutlich: die Missbrauchs-Debatte müsste eigentlich eine Homosexualitäts-Debatte sein. Viganò vertritt das mit Vehemenz, andere sich selbst vor allem gerne als laubens-Kontrolleure aufspielende Webseiten englischer Sprache auch. George Weigel tut es eher zurückhaltend und fragend, aber trotzdem in dieselbe Richtung denkend.
Wenn das aber so wäre, dann wären auch die Lösungen klar. Anstatt über Homosexualität zu reden, wäre die Ablehnung oder die Erklärung, das sei eine Krankheit, ausreichend. Anstatt Haltungen zu überdenken, würden sie verstärkt, und das auch noch mit dem Verweis auf die Krise.
Keine Ideologien, bitte!
Aber machen wir das, was Weigel fordert, schauen wir die Daten an, in unserem Fall in die MHG Studie. Die wird zwar oft kritisiert, aber es sind erst einmal Daten, und auf die sollen wir ja schauen. Korrekt werden in der oben genannten Deutung die Daten wieder gegeben, ich zitiere aus der Studie:
„Dokumentierte Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung lagen bei 14,0 Prozent bzw. 19,1 Prozent [an dieser Stelle bezieht sich der Text auf zwei verschiedene Studien] der beschuldigten Kleriker vor. Dies war gegenüber der Vergleichsgruppe aus anderen institutionellen Kontexten wie z.B. Schulen (6,4 %) stark erhöht. In Teilprojekt 2 fanden sich bei 72 Prozent der interviewten beschuldigten Kleriker Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung und bei 12 Prozent der interviewten nicht beschuldigten Kleriker.“
Das unterstützt scheinbar erst einmal die Deutung Weigels. Mit Blick auf die Daten muss festgestellt werden, dass es zumindest im Vergleich in der katholischen Kirche mehr Missbrauch unter homosexuellen Vorzeichen gibt.
Zahlen sind noch keine Analyse, Analyse noch keine Interpretation
Aber, und das ist ein großes und wichtiges aber, Zahlen sind noch keine Analyse. Anlyse ist noch keine Interpretation. Und gerade bei einem solchen Thema muss das sehr vorsichtig passieren, denn selbst Weigel fordert ja, keine ideologischen Thesen dem Thema aufzudrücken.
Also zitiere ich noch einmal aus der Studie, die sich die eigenen Zahlen anschaut: „Monokausale Erklärungen für das deutliche Überwiegen männlicher von sexuellem Missbrauch betroffener Kinder und Jugendlicher durch Kleriker der katholischen Kirche greifen zu kurz.“ Das ist ausdrücklich auf das Thema Homosexualität gesprochen. Es gebe verschiedene Erklärungen, warum die Zahlen so seien, wie sie sind. Die Interpretation, die Missbrauchs-Thematik sei in Wirklichkeit eine Homosexualitäts-Thematik, geht damit an den Zahlen vorbei.
Die MHG-Studie zählt dann andere mögliche Interpretationen auf, etwa die Frage nach der katholischen Sexualmoral zur Homosexualität, außerdem der zölibatären Lebensweise in Verbindung mit unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigungen. Um dann zu schließen „das komplexe Zusammenspiel von sexueller Unreife, abgewehrten und verleugneten sowie die zum Zeitpunkt der Berufswahl möglicherweise latenten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung könnte also eine weitere Erklärung für das Überwiegen männlicher Betroffener beim sexuellen Missbrauch durch katholische Kleriker bieten.“ Um dann anzuschließen: „Allerdings sind weder Homosexualität noch Zölibat eo ipso Ursachen für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.“
Deutungen
Und damit sind wir bei der Deutung der Missbrauchs-Krise. Der Verweis – direkt oder indirekt – darauf, dass es sich hier um eine Homosexualitäts-Problematik handle, trägt nicht. Ich würde sogar sagen, der macht „blind“, wie die Bibel sagen würde, er lässt die Wirklichkeit nicht sehen. Mit der Aufforderung, keine Ideologie in die Debatte zu bringen, kommt sie durch die Hintertür wieder rein, getarnt als faktenbasierte Interpretation.
Mit der MHG Studie müssen wir aber sagen: „Homosexualität ist kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch. Die Studienergebnisse machen es aber notwendig, sich damit zu beschäftigen, welche Bedeutung den spezifischen Vorstellungen der katholischen Sexualmoral zu Homosexualität im Kontext des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zukommt.“ So wird ein Schuh draus.
Ja, die Studie wird kritisiert, aber sie wird auf wissenschaftlicher Basis kritisiert. Und das ist ja gut so, nur so kommen Debatten und damit Fortschritt in Einsicht zu stande. Die Studie gibt der Katholischen Kirche auch noch kräftig einen mit, wenn es um das Verständnis von Homosexualität geht: „Von der Kirche in diesem Zusammenhang verwendete idiosynkratische Terminologien wie jene einer „tief verwurzelten homosexuellen Neigung“ entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage.“
Mögliche Lesarten und Interpretationen der Daten führen zumindest die Fachleute zu anderen Schlüssen, als die oben genannten es gerne hätten. George Weigel hat recht, die Debatte darf nicht ideologisch geführt werden. Anders formuliert: die Kirche muss zuhören, jedem einzelnen Betroffenen, Opfer und Überlebenden, aber auch den Zahlen.
Vor allem aber ist das die Aufforderung, jetzt nicht das Thema wechseln zu sollen.