Je mehr wir auf uns selbst beschränkt sind, je weniger Kontakt wir miteinander haben, desto stärker zeigt sich Solidarität. Alle machen mit, auch wenn wir alleine oder nur in Familie sind. Ein scheinbarer Widerspruch, aber auch nur ein scheinbarer. Wir leben „in diesen Zeiten“ von der Ressource Solidarität und es hilft. Das eigene Zurückhalten, das nicht Bestehen auf eigenen Rechten auf Kosten vielleicht der Gesundheit anderer, die Selbstbeschränkung oder der Einkauf für die Nachbarn, in all dem drückt sich diese Ressource aus.
Mich hat das ehrlich gesagt erstaunt. Ich hätte mir mehr Durcheinander erwartet, dass trotz all der Einschränkungen und der Ungewissheit der Zukunft, für viele vor allem der beruflichen Zukunft, so lange und so selbstverständlich Solidarität geübt wird, zeigt gesellschaftliche Reife.
Ressource Solidarität
Erstaunt hat es mich wohl vor allem deshalb, weil der Trend in eine andere Richtung ging: die Trennung, das Wahrnehmen des Anderen und Fremden als Gefahr, der Rückzug in ein vermeintlich ‚Nationales‘ wurde stark. Solidarität sei ein Schimpfwort geworden, hatte Papst Franziskus das genannt.
Hat sich in der Krise nun das Gegenteil gezeigt? Ja und Nein. Ja, weil es eben viel Solidarität gibt. Aber diese Solidarität ist eine begrenzte, sozusagen eine geschützte Solidarität. Die damit verbundene Selbstlosigkeit sei verbunden mit der fest erwarteten Befristung des Zustandes, analysiert John Schellnhuber (Potsdam-Institut für Klimaforschung).
Die erwartete Befristung
Wenn es um die nächste Krise ginge, die Klima-Krise, sei es schon schwieriger mit der Ressource Solidarität, schreibt er. Da gibt es nämlich keine Befristung und Begrenzung, nicht zeitlich, nicht räumlich. Da geht es um kommende Generationen und um Menschen, die weit weg und außerhalb des Sichtfeldes leben. Hier würde sich zeigen, ob wir aus der jetzt geübten Solidarität gelernt hätten oder zurück fielen in die alten Muster des kurzfristigen und kurzsichtigen Gewinns.
Aber das gibt es ja auch heute schon: die Krankenhäuser sind auch wegen der Disziplin vieler Menschen hier bei uns nicht überfordert. Aber es dauerte grausam lange, um 50 unbegleitete junge Menschen aus einem völlig überfüllten Flüchtlingslager zu holen. 50 von 40.000 Menschen! Die Solidarität ist begrenzt, weil sie Nachbarn und noch einigermaßen verstehbare Größenordnungen von Menschen umfasst. Rio de Janeiro? Ostafrika? Dehli? Kairo? Dorthin schicken wir keine der hier nicht gebrauchten Betten, sozusagen.
Für den eigenen Staat ist das normal, dessen Verantwortlichkeiten sind klar umschrieben. Aber schon bei der EU hört es auf, wie wir in den vergangenen Wochen auch erleben mussten.
Schon bei der EU hört es auf
Zurück zur Solidaritäts-Frage: Solidarität bedeutet schlicht sich etwas, was nicht das eigene Problem ist, zu Eigen zu machen. Das Andere also, das mir gegenüber tritt, wird durch Solidarität seines Charakters als „anders“ nicht beraubt, aber anstatt gefährlich zu sein, tritt Hilfe oder Akzeptanz oder was auch immer dazu. Auf jeden Fall etwas Positives. Solidarität ist der Widerstand gegen alle Trennungen, gegen all diese Versuche, das Eigene auf Kosten des Anderen zu schützen. In diesem Sinne betont es der Papst ja auch immer wieder.
Konkret kann das Beschränkung bedeuten. Wobei die zum Beispiel in Sachen Klima nur kurzfristig wären, wie Schellnhuber in dem bereits zitierten Artikel sagt. Aber uns fällt es schwer, das zu glauben. Er nennt es ein „beispielloses zivilisatorisches Meisterstück“, was möglich wäre, wenn wir diese „beharrliche Empathie über Jahrzehnte hinweg“ leisten. Wobei das nicht nur menschlich wäre, sondern auch zutiefst christlich.
Beharrliche Empathie über Jahrzehnte
Viele wollen das nicht wagen. Trotz all der Solidarität, die wir – in ihrer räumlichen und zeitlichen – Perspektive im Augenblick erleben. Strategien gegen Solidarität gibt es viele.
Hier im Blog begegnen mir zum Beispiel immer wieder versuche der De-Legitimation. Vieles davon können Sie gar nicht lesen, das hat in einer von mir moderierten Debatte nichts zu suchen, aber mir selber fällt es auf, wie die Kompetenz derjenigen unterlaufen wird, die mit wissenschaftlichen Methoden Wirklichkeit verstehbar machen wollen. Da gleichen sich die Muster: „Das-ist-Meins“ wird mit Händen und Klauen verteidigt, gegen jede wahrgenommene Zumutung, die als ungerechtfertigter Anspruch formuliert wird.
Deswegen ist die Solidarität „in diesen Zeiten“ nur ein kleiner Schritt, eben weil sie begrenzt ist. Wir vertrauen dem Kontrollierbaren, dem Regierbaren. Aber all den Flüchtlingen auf der Welt, denen eben auch das Virus droht und die nicht mal ein Mindestmaß an Schutz haben, denen gilt sie nicht in gleichem Maße.
Solidaritäts-Projekte
In seiner Osteransprache hat der Papst auf das Solidaritäts-Projekt Europa verwiesen. Wo er aber eine Herausforderung sieht, also eine grundsätzlich offene Frage, ist Kardinal Jean-Claude Hollerich, Vorsitzender der Bischöfe in der EU, schon skeptischer: „Wir sehen die Schwierigkeiten europäischer Solidarität“, schreibt er in einem Artikel. Das würde zu einer Ernüchterung gegenüber dem Projekt Europa führen.
Zwei mögliche Wege: Herausforderung und Lernen aus der Solidarität für die nächsten Schritte, oder eben ein Einschränken. Betone ich die Selbstlosigkeit, oder betone ich die Beschränkungen, unter denen ich bereit bin, selbstlos zu sein?
Das wird die Zukunftsfrage sein, wenn es darum geht, Antworten auf all die anderen Fragen zu finden, die uns in den kommenden Jahren begegnen werden. Wenn „diese Zeiten“ vorbei sind und neue Zeiten neue Fragen an uns stellen.