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Schlagwort: Krise

Papstbuch: Das Nehemia-Projekt

Veröffentlicht am 4. Dezember 20204. Dezember 2020
Träumen ist keine Phantasterei Ein sehr persönlicher Papst

Es geht um etwas, was uns übersteigt. Was größer ist. Wohin wir nur kommen, wenn wir uns zu träumen erlauben. Träumen ist keine Phantasterei, träumen bedeutet hinaufreichen, über den Horizont blicken, sich nicht von vermeintlichen Mauern einschränken zu lassen.

So etwas braucht es heute. Und deswegen hat Papst Franziskus ein Buch darüber geschrieben. Heute kommt es auf den Markt: „Wage zu Träumen! Mit Zuversicht aus der Krise.” Es ist kein Ratgeber-Buch, kein seichter Ermutiger. Es ist ein Projekt, das Großes will.

Träumen ist keine Phantasterei

Das Träumen war immer schon wichtig für diesen Papst. „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln…“ schreibt er in Evangelii Gaudium (27). Traum ist ein Schritt zur Veränderung, zum Wandel. Traum ermöglicht. In den Augen des Papstes selbst da, wo wir das gar nicht mehr sehen. Deswegen ruft er zum Beispiel Obdachlosen zu „Hört nicht auf zu träumen!“ Das Träumen, von dem der Papst spricht, ist kein Rückzug. Kein in sich Kehren, keine Innerlichkeit. Es will zu konkretem Handeln führen.

Dieses Buch will träumen. Was aus diesem Papst aber keinen Traumtänzer macht, im Gegenteil. Träumen ist nicht etwa eine Abkehr vom Realismus. Es braucht einen geschärften und ideologiefreien Blick auf die Wirklichkeit, um träumen zu können. Und träumerisch-realistisch war auch schon die jüngste Enzyklika. Und so kommt auch der ins Buch. Manchmal holzschnittartig, immer aufrüttelnd, oft sehr persönlich.

Ein sehr persönliches Buch

Wie gesagt, es ist ein sehr persönliches Buch geworden, vielleicht das Persönlichste. Der Papst erzählt von eigenen Krisen, von Rückschlägen und seiner Krankheit und berichtet auch vom Frust, den er damals in Deutschland erlebt hat. Aber er berichtet auch von dem, was er etwa im Studium von Romano Guardini gelernt hat. Über den wollte er ja promovieren, woraus nichts wurde. Aber geprägt hat Guardini den Papst sehr: „Guardini hat mir den Wert des unfertigen Denkens gezeigt. Er entwickelt einen Gedanken, aber dann begleitet er dich nur bis zu einem Punkt, bevor er dich innehalten lässt, um dir Raum zum Nachdenken zu geben. Er schafft einen Raum, in dem du der Wahrheit begegnen kannst.“

An dieser Stelle werde ich sicherlich noch auf das Buch zurück kommen, zuerst aber vielleicht zwei Dinge. Erstens: es lohnt die Lektüre!

Aufbau gegen Widerstände

Und zweitens möchte ich einen Aufruf des Papstes heraus nehmen, den ich für bezeichnend halte: das Nehemia-Projekt. Der Papst spricht über den Propheten und das alttestamentliche Buch gleichen Namens, in dem es um den Wiederaufbau Jerusalems nach der Katastrophe geht. Um Aufbau auch gegen Widerstände von außen. Und um die Freude, die Stärke schenkt. Das ist das, was ihn an Nehemia beschäftigt und wo er Berührungspunkte zu seinem eigenen Traum-Wagnis sieht. Und so schreibt er:

„Jetzt ist der Augenblick für ein neues Nehemia-Projekt gekommen, einen neuen Humanismus, der die Aufbrüche von Geschwisterlichkeit nutzbar machen und der der Globalisierung der Gleichgültigkeit und der Hyperinflation des Individuellen ein Ende setzen kann. Wir müssen wieder das Gefühl haben, dass wir einander brauchen, dass wir eine Verantwortung für andere haben“.

Und damit wären wir auch beim Anlass des Buches: wie kommen wir aus der Corona-Krise heraus? Was wollen wir danach aufbauen? Wie unsere Welt, in der so viel zusammen gebrochen sein wird, neu gestalten? Dass Papst Franziskus mit der Art und Weise, wir wir unsere Welt vor allem wirtschaftlich geordnet haben, nicht einverstanden ist, ist kein Geheimnis. Auch aus religiösen Gründen nicht. Aber während der Papst in der Vergangenheit eher allgemein gesprochen hatte, ist es nun eine sehr konkrete und weltweite Krise, für die er eine Perspektive entwickelt.

Man kommt nicht so aus einer Krise heraus, wie man hinein gegangen ist, das ist das Mantra des Buchs. Und deswegen: „Wir brauchen die Fähigkeit der stillen Reflexion, Rückzugsorte von der Tyrannei des Dringenden.“ Wir brauchen die Fähigkeit zu träumen.

Was will der Papst mit seinem Buch?

Was will der Papst mit seinem Buch? Zunächst einmal nimmt er eine von ihm gewohnte Perspektive ein: Man sieht die Realität besser von ihren Schwachstellen aus, von der Peripherie. Das wird in der Krise besonders sichtbar. Nicht die Stärken bestimmen seinen Blick auf die Welt, sondern eben diese Schwächen.

Mit diesem Blick schaut er auf Covid, aber daneben zählt er auch die anderen Schwächen und Krisen der Welt auf, die im Augenblick in den Hintergrund gerückt sind, etwa fehlende Schulbildung für viele Kinder oder den Hunger. Seine Angst ist, dass wir alle hart daran arbeiten, den Zustand von vor der Krise wieder her zu stellen. Seine Angst ist es auch, dass das, was in der Krise sichtbar geworden ist, nachher wieder zugedeckt wird. Und so einsichtig das ist für Menschen, deren Existenz jetzt bedroht ist, so war das System von davor doch Teil des Problems. Deswegen sein Mantra: Man kommt nicht so aus einer Krise heraus, wie man hinein gegangen ist. Es ist an uns, das zu gestalten.

Das Mantra des Papstes

Und genau darum geht es in dem Buch: gestalten. Die Gleichgültigkeit und das sich nicht zum Nachbarn und Schöpfung kümmern, das seien keine Optionen mehr. Leider sei unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Welt genau darauf aufgebaut. Und geschützt werde das von einer inneren Haltung, der – wie er es nennt – „abgeschlossenen Geisteshaltung“, der er eine großen Teil des Buches widmet. Es ist eben keine abstrakte Kritik am „System“, sondern konkret, für jede und jeden handhabbar. Wir können auf uns selber schauen, wenn es um die Überwindung der Krise geht. Und das ist sein Anliegen.

Nicht „man müsste mal“, sondern ganz praktische schauen auf sich selbst und die eigene Haltung und das eigene Herauskommen aus der Krise. Natürlich hat der Papst auch wieder Wirtschaftskritik im Gepäck, das Wachstums-Prinzip sei nicht länger haltbar. Er argumentiert auch für ein Gundeinkommen und hat andere konkrete Ideen. Aber der Kern ist dann doch das, was wir geistlich als „Umkehr“ bezeichnen.

Der „Feind der menschlichen Natur“

So ist der spannendste Teil des Buchs eben die spirituelle Anleitung. Er spricht vom „Feind der menschlichen Natur“, also von dem, was uns von uns selbst, vom Nächsten und von Gott entfernt und letztlich destruktiv ist. Er macht sichtbar, wie dieser „Feind“ agiert und unser Leben beeinflusst. Er bedient sich durchweg einer spirituellen Sprache, welche die Worte Versuchung, böser Geist, Geisteshaltung und Demut kennt.

Der Schlussakkord: Wenn wir besser aus dieser Krise herauskommen wollen, müssen wir die Idee zurück gewinnen, dass wir als Volk ein gemeinsames Ziel haben. Die Pandemie hat uns daran erinnert, dass niemand alleine gerettet wird.

Das Ziel Gemeinwohl, das Ziel „träumen”

Gemeinwohl ist das Ziel, ausgedrückt in dem in unserer Sprache vielleicht etwas sperrig klingenden Wort „Volk“. Gemeinwohl ist viel mehr als die Summe des Wohls der Einzelnen. Und das ist ja aktuell, wie der Impfstoff-Nationalismus dieser Tage sehr deutlich zeigt.

„Indem wir diese Fragen stellen, öffnen wir uns für das Handeln des Geistes. Wir können beginnen zu unterscheiden, neue Möglichkeiten sehen, wenigstens in den kleinen Dingen um uns herum oder in den alltäglichen Dingen, die wir tun. Und indem wir uns diesen kleinen Dinge überlassen, beginnen wir, uns eine neue Weise des gemeinsamen Lebens vorzustellen, des Dienstes an unseren geliebten Mitgeschöpfen. Wir können anfangen, zu träumen.“

Was den Papst interessiert, sind nicht einzelne Rezepte, sondern der Prozess des Wandels. Es geht ihm religiös gesprochen um die Dynamik der Bekehrung. Um ein „Pilgern“, ein sich bewegen, ein nicht da stehen bleiben, wo man es vermeintlich behaglich eingerichtet hat und wohin man zurück will. Das geht aber nicht mehr,

Denn noch einmal: „Lange Zeit dachten wir, wir könnten in einer kranken Welt gesund sein. Aber die Krise hat uns vor Augen geführt, wie wichtig es ist, für eine gesunde Welt zu arbeiten“. Wir kommen nicht aus der Krise heraus, wie wir hinein gegangen sind. Es ist an uns, das zu gestalten.

 

Kategorien Allgemein, Die deutschsprachige Kirche, Franziskus, Glaube und Gerechtigkeit, Glaube und Vernunft, Rom, Spiritualität / Geistliches LebenSchlagwörter Aufbau, Buch, Corona, Covid, Gesellschaft, Krise, Papst Franziskus, Politik, War zu Träumen6 Kommentare zu Papstbuch: Das Nehemia-Projekt

„Lange Zeit dachten wir, wir könnten in einer kranken Welt gesund sein”

Veröffentlicht am 1. Dezember 20201. Dezember 2020
Der Welt geht es nicht gut Ein Buch, frisch aus Rom

Rassismus und Ausgrenzung. Die Missbrauchskrise. Die Polarisierung von Gesellschaft und Politik. Eine zerstörerische Form der Wirtschaft. Und natürlich allem voran die weltweite Corona-Krise: Der Welt geht es gerade nicht besonders gut. Papst Franziskus äußert immer wieder dazu, nun aber ausführlich und konkret an der Corona-Krise aufgehängt. Und er tut es  ausdrücklich aus einer geistlichen Perspektive. (Nebenbemerkung: die muss man nach den medialen Verarbeitungen der Vergangenheit allerdings erst gegen Widerstände entdecken. Aber das lohnt sich).

Es ist ein ganzes Buch geworden, entstanden aus Gesprächen und Austausch mit dem britischen Journalisten Austen Ivereigh. Die erste Version des Buches, die Originalsprache Englisch, ist seit heute auf dem Markt. Eine deutsche Übersetzung folgt am 4. Dezember. Und dann schreibe ich hier auch mehr zum Inhalt. Aber etwas schon mal vorweg:

Der Welt geht es nicht gut

„Lange Zeit dachten wir, wir könnten in einer kranken Welt gesund sein. Aber die Krise hat uns vor Augen geführt, wie wichtig es ist, für eine gesunde Welt zu arbeiten“. Dieses Papst-Zitat steht über dem nun veröffentlichten Buch, und es gibt sehr gut die Zielrichtung wieder. Es ist nicht das erste Mal, dass der Papst sich dazu äußert, nun tut er es aber ausführlich und darüber hinaus leidenschaftlich und sehr persönlich.

Zur Transparenz ein persönliche Bemerkung: In den vergangenen Monaten konnte ich nicht nur das Buch schon lesen, sondern ich war auch an seiner Übersetzung beteiligt. Spannend, auch weil der Papst selbst bis zuletzt sehr aktiv bei der Erstellung beteiligt war.

Ein sehr persönliches Buch

Und auch wenn es ein Papstbuch ist, der Helfer beim Zustandekommen war der Papstbiograph Austen Ivereigh. Und dem habe ich zum Erscheinen einige Fragen gestellt:

Hagenkord: Austen, du hast das Projekt begonnen und ausführlich mit dem Papst an diesem Thema gearbeitet, was sagt Franziskus, das andere noch nicht gesagt haben?

Austen Ivereigh: Dies ist das erste Buch eines Papstes als Antwort auf eine globale Krise, ein Buch, das uns geistliche Orientierung inmitten einer Krise bietet. Natürlich hat er das schon seit dem berühmten Urbi et Orbi vom 27. März dieses Jahres an getan, aber hier tut er dies in einer konzentrierten, intimen, direkten Weise. Er spricht sozusagen zu jedem von uns als Individuen und zu uns allen als Gemeinschaft.

Das große Thema des Buches ist, wie wir vermeiden können, die Chance dieser Krise zu verpassen, indem wir Gott in die Geschichte – in unsere Geschichte – hineinlassen und den Versuchungen und Hindernissen ausweichen, die dazu führen, dass wir diese Chance verpassen. Es ist so etwas wie eine ausführliche Meditation zum Hölderlin-Zitat aus dem Prolog des Buches: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch“.

Ich glaube nicht, dass dies jemals zuvor getan wurde. Und obwohl das der Schwerpunkt ist, erstreckt sich das Buch weit über viele Themen, die er als Papst noch nie zuvor, zumindest nicht auf diese Weise, angesprochen hat. Von diesen Themen möchte ich sein Verständnis von Leitung durch Frauen als Zeichen der Zeit erwähnen; außerdem seine Meditation über die „abgeschottete Geisteshaltung“ als eine Form der Abwendung von der Sendung der Kirche – die Versuchung von Eliten und kleinen Gruppen von Puristen, sei es auf der linken oder rechten Seite der Kirche; ich möchte nennen seine Sichtweise auf die Unterscheidungsprozesse während der Bischofssynoden seines Pontifikats; und schließlich die These in Teil III des Buches, dass unsere vielfältigen Krisen ihren Ursprung im Verlust des Sinns für die Würde des Volkes haben und wie wir die Wiederherstellung dieser Würde zum zentralen, übergeordneten Prinzip unserer post-Covidischen Welt machen müssen. All dies ist neu. 

Hagenkord: Es ist nicht das erste Mal, dass der Papst über unseren Weg aus der Krise spricht, es gibt sogar ein kleines Buch mit seinen Texten. Was macht diesen neuen Text besonders?

Ivereigh: Was ‚Let Us Dream‘ als Text einzigartig macht, ist, dass er die Frucht der vielen Gespräche ist, die Franziskus und ich im Laufe des Sommers geführt haben, aber dass er nicht als Interview, sondern als Narrativ geschrieben ist. Es ist in drei Teile gegliedert: „Eine Zeit zum Sehen”, „Eine Zeit zum Wählen” und „Eine Zeit zum Handeln“.

Jeder Abschnitt fühlt sich sehr unterschiedlich an, aber jeder ist ein wichtiger Teil eines Prozesses der Umkehr: Lernen, die Wirklichkeit zu betrachten und von dem, was wir sehen, berührt zu werden; lernen, zu unterscheiden, was von Gott ist und was Gott ablenkt oder untergräbt; und mutig im Einvernehmen mit dem Guten Geist handeln, um eine neue Zukunft herbeizuführen: eine Wirtschaft, die sich um die Armen kümmert, Zugang zu Arbeit ermöglicht und der Natur Raum gibt; eine Politik, die den Menschen nicht nur eine Stimme, sondern einen Platz am Tisch gibt; und eine Gesellschaft, die die Geschwisterlichikeit widerspiegelt, anstatt sie zu untergraben.

Auch wenn ich die Fragen gestellt und die ersten Entwürfe gemacht habe, habe ich eigentlich nur das Gerüst bereitgestellt, an dem er seine Einsichten und Anleitungen aufhängen konnte. Auch die Tatsache, dass es sowohl in Englisch als auch in Spanisch verfasst wurde – wir haben zwei Originaltexte erstellt, von denen die anderen Übersetzungen, einschließlich der deutschen, angefertigt wurden – war ein weiteres Novum in der Geschichte solcher Bücher. Es gab bereits erste Reaktionen dazu, wie natürlich Franziskus auf Englisch klingt. Ich scherzte mit ihm, dass er in ‚Let Us Dream‘ der am natürlichsten englisch klingende Nachfolger des heiligen Petrus seit Adrian IV. im zwölften Jahrhundert ist, der einzige englische Papst überhaupt! Das gefiel ihm, glaube ich. 

Hagenkord: Glaubst du, dass Franziskus eine Chance hat, mit diesen Themen gehört zu werden?

Ivereigh: Er wird bereits gehört. Teile des Buches wurden zusammen für einen großen „Op Ed” in der New York Times letzte Woche verwendet, der einen großen Eindruck hinterließ. Es wurde in La Repubblica in Italien, ABC in Spanien und The Times hier im Vereinigten Königreich auszugsweise veröffentlicht. Und es hat wegen seiner akuten Beobachtungen über die Krise, über Frauen, über die Verfolgung der Uiguren (die eine verärgerte Reaktion der chinesischen Regierung auslöste) eine weltweite Berichterstattung ausgelöst – also ja, er wird gehört.

Und all das, bevor das Buch tatsächlich herauskommt und gelesen wird. Meine Hoffnung für ‚Let Us Dream‘ ist, dass sich die Menschen jenseits der Schlagzeilen und der aufmerksamkeitsstarken Dinge darin, die verblassen werden, mit der spirituellen Weisheit und Leitung im Herzen des Buchs beschäftigen. 

Hagenkord: Der Papst will unsere Meinung oder unsere Denkweise ändern. War er bei seinem ersten Leser, also bei dir, erfolgreich?

Ivereigh: Auf Englisch sprechen wir von „preaching to the choir”, und in meinem Fall gebe ich gerne zu, dass ich nicht nur sein Biograf, sondern auch ein Schüler bin. Mein Denken und meine Denkweise haben sich durch Franziskus in den letzten sieben Jahren grundlegend verändert.

Du könntest also erwarten, dass ich von meiner Einstellung nicht viel ändern musste, während ich mit ihm an ‚Let Us Dream‘ arbeite. Und doch hat es mich verändert.

Ich stelle mir die Frage, ob ich mich während dieser wiederholten Lockdowns hinter meine Rollen und Funktionen zurückziehe oder ob ich, wie Franziskus drängt, hinausgehe, um zu dienen. Ich denke viel über seine Herausforderung an uns nach, diese Gelegenheit zum Wandel nicht ungenutzt verstreichen zu lassen; ich höre den Nachrichten zu und frage mich: Warten wir nur darauf, zum Status quo ante zurückzukehren? Die Antwort darauf lautet größtenteils ja.

Und doch verfolgt mich das, was der Papst uns sagt: dass wir nicht zurückgehen können, dass man in einer Krise wie dieser entweder besser oder schlechter wegkommt, aber nicht mehr derselbe sein wird. Ich denke also, die Herausforderung des Buches ist, wenn überhaupt, größer denn je. 

Und ich glaube, dass es die Menschen verändern wird, so wie mich.

 

Kategorien Allgemein, Franziskus, Glaube und Gerechtigkeit, Glaube und Vernunft, Rom, Spiritualität / Geistliches Leben, VatikanSchlagwörter Austen Ivereigh, Corona, Ivereigh, Krise, Papst Franziskus, Wirtschaft2 Kommentare zu „Lange Zeit dachten wir, wir könnten in einer kranken Welt gesund sein”

Entscheiden und Unterscheiden

Veröffentlicht am 12. Oktober 202011. Oktober 2020
Zeiten von Unsicherheit Das nun erschienene Buch

Was tun in Zeiten von Unsicherheit? Eine Frage, die wir uns heute dauernd stellen. Nicht zuletzt die Debatten um den synodalen Weg, um Theologie und Vorstellungen von Kirche in unserer pluralen Welt machen das sehr deutlich. Wenn wir aber debattieren, was nun zu tun sei, gilt es einige Fallen zu beachten. Versuchungen, wie es die geistliche Sprache nennt. Und Papst Franziskus empfiehlt, zu unterscheiden, noch so ein Wort aus der geistlichen Tradition. Texte aus der Tradition des Jesuitenordens möge helfen zu verstehe, was damit gemeint ist.

„Ideen werden diskutiert, Situationen werden unterschieden.“ Das ist O-Ton Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus, geschrieben in einem Vorwort zu einem Sammelband von 1987. Die Zeitschrift Civiltà Cattolica hatte den Text von Pater Bergoglio vor fast zwei Jahren neu veröffentlicht. Jetzt ist das Ganze auch auf Deutsch erschienen. Das Buch, das mit dem Text eingeleitet wurde, versammelt außer den Bergoglio-Einleitungen interessante Texte aus der Geschichte des Jesuitenordens, und dazu die Einleitung vom Pater Bergoglio.

Zeiten von Unsicherheit

An dieser Stelle habe ich darüber schon einmal geschrieben, anlässlich der deutschen Ausgabe erlaube ich mir aber eine Auffrischung.

Im Buch abgedruckt sind Briefe von zwei Generaloberen des Jesuiten-Ordens. Von Lorenzo Ricci SJ (gewählt 1758), der erleben musste, wie die Bourbonen-Könige Europas den Orden anfeindeten und schließlich erreichten, dass der Orden aufgelöst wurde. Ricci selber wurde vom Papst in der Engelsburg festgehalten und starb dort auch, ohne Prozess. Jan Roothaan SJ (gewählt 1829 nach der Wiederzulassung des Ordens) erlebte Anfeindungen des erstarkenden antikirchlichen Liberalismus gegen den Orden.

Mehr braucht man nicht wissen, Bergoglio skizziert die Situationen auch nur kurz, um dann auf den geistlichen Inhalt einzugehen. Und die Lehren für Jesuiten – und nicht nur Jesuiten – heute.

Nicht gleich das innere Schwert ergreifen

In solchen schwierigen Situationen treten immer Versuchungen auf, damit beginnt P Bergoglio. Eine Versuchung ist es, über Ideen zu streiten und damit der Ursache für den Zweifel oder die Anfeindung zu viel Macht zuzugestehen. Die beiden Jesuitengeneräle empfehlen also getreu der geistlichen Haltung des Ordensgründers Ignatius, erst mal in sich selber nachzuschauen. Der Leser soll auf die inneren Stimmen hören, statt direkt innerlich das Schwert zu ergreifen und sich gegen etwas oder jemanden zu wenden.

Auffällig sei – so Bergoglio über die Briefe und ihre Schreiber – dass nicht versucht würde, mit den Anfeindungen zu streiten. Normal wäre das Gegenteil: Man beklagt die Ungerechtigkeit und definiert sich als Opfer. Man sieht etwas Bösartiges gegen sich am Werk und dieses Gefühl bestimmt dann die eigene Reaktion. Natürlich gibt es diese Ungerechtigkeit, aber das gerät in der geistlichen Tradition nicht in den Fokus. Thema ist vielmehr die innere Verwirrung, die durch die Anfeindungen ausgelöst werden. Ich wende mich mich nicht gegen etwas oder jemanden, ich schaue erst einmal auf mich.

Innere Verwirrung

Natürlich ging es damals um Ideen, etwa im Liberalismus, der Aufklärung, der Moderne, und auch dort gibt es Irrtümer und Fehler. Aber das lassen die beiden Schreiber erst mal beiseite. Weil Ideen diskutiert werden, die Situation, in der man sich befindet, aber unterschieden wird. Hier ist es wieder, das Wort „Unterscheidung“.

Wahrheit oder Falschheit ist nicht Gegenstand einer Unterscheidung, unterschieden werden nur „Geister“ in der Sprache der Spiritualität. Also was wir innere Bewegungen, Stimmungen, Emotionen nennen würden. Hier gäbe es die von außen ausgelöste Verwirrung, und die könne man unterscheiden: woher kommt das? Was löst das in mir aus? Und dann kann man sein Verhalten danach ausrichten. Nicht als Reaktion auf die Anfeindung oder auf eine Idee, sondern auf dem aufbauend, was ich als Gottes Willen für mich erkenne.

Es geht – und hier ist Bergoglio ausdrücklich – nicht darum, eine Lösung zu finden, die mir Ruhe gibt, bzw. die mich in Ruhe lässt. In Zeiten der Unsicherheit ist Sicherheit nicht die Lösung, sondern ein Friede – auch ein innerer Friede – der von Gott her kommt. Das ist eine steile Ansage, entspricht aber ganz dem geistlichen Vorgehen, das wir auch sonst bei Papst Franziskus sehen.

Nicht Sicherheit, sondern innerer Friede

„Es ist nicht Gott gemäß, die Wahrheit auf Kosten der Barmherzigkeit zu verteidigen, und auch nicht die Barmherzigkeit auf Kosten der Wahrheit, oder ein Gleichgewicht auf Kosten beider,“ heißt es in dem Text. Das muss man sich ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen. Bergoglio buchstabiert das dann aus, man würde entweder ein wahrheitsliebender Zerstörer werden oder ein barmherziger Lügner oder ein paralysierter Verwirrter.

Zurück zur Situation, in der die Briefe spielen: Die Generaloberen sprechen auch von den Schwächen der Jesuiten, was nicht nur eine rhetorische Spielerei ist. Es geht in Zeiten der Anfeidung nämlich darum, den Willen Gottes zu suchen, durch Unterscheidung, und da gehören diese Schwächen oder Sünden und Fehler hinein. Es geht ersteinmal nicht darum, die Auslöser der Anfeindung als solche zu bekämpfen.

Wahrheitsliebender Zerstörer, barmherziger Lügner

Das Betrachten der Verwirrung, welche durch Versuchung oder Anfeindung ausgelöst wird, hat auch den Vorteil, dass ich mich selber nicht mehr in der Position des Opfers sehe. Ich schaue auf all die verschiedenen inneren Bewegungen und sehe mich nicht nur als Opfer, als ungerecht Behandelter. Das vermeidet Selbstgerechtigkeit, welche dem Blick auf den Willen Gottes immer im Weg steht.

Jorge Mario Bergoglio: Briefe in Bedrängnis. Trost in Zeiten der Not. Edition Communio, 2020

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Steine auf dem Weg

Veröffentlicht am 7. Juni 20206. Juni 2020
Ist der synodale Weg vorbei Unterwegs: Köln, Hauptbahnhof und Dom

Es klingt ein wenig wie Triumphgeheul: in der Zeitung „Die Tagespost“ hofft ein Kommentar auf ein „Versanden in Bedeutungslosigkeit“ des synodalen Weges. Das Unterfangen ähnle bereits einem „konkursreifen Betrieb“. Ist das so? Ist der synodale Weg vorbei, noch bevor er richtig begonnen hat?

Richtig ist, dass wir nicht einfach wieder zurück können zum Vorher. Jetzt ohne die in der Corona-Krise gewonnen Erfahrungen und Einsichten einfach weiter zu machen wäre fahrlässig. Deswegen bin ich eindeutig dafür, jetzt nicht eine zweite Vollversammlung abzuhalten, sondern einen Zwischenschritt zu gehen, der genau das ermöglicht.

Ist der synodale Weg vorbei?

Das ist kein autoritatives Entscheiden der Leitung, sondern ein verantwortungsvolles und reflektiertes Umgehen mit den Themen in einer außergewöhnlichen Situation.

Aber wie können wir weiter gehen? Jedenfalls nicht damit, dass wir uns in Gewinner und Verlierer aufteilen. Wer setzt sich durch? Wessen Ansicht von Kirche dominiert? Das ist die Einstellung hinter dem eingangs zitierten Kommentar, aber das bringt uns nicht weiter.

In der gleichen Zeitung wies vor einigen Tagen Kardinal Rainer Maria Woelki darauf hin, das für viele der synodale Weg gar kein offener Prozess sei, sondern klar auf bestimmte Vorgaben zusteuern müsse. Da stimme ich zu. Immer wieder gibt es Stimmen, die jetzt schon vorgeben wollen, was heraus zu kommen habe. Übrigens nicht nur auf der gerne als „progressiv“ beschriebenen Seite, diese Einstellung gibt es überall.

Offenheit ist gefragt

Wir brauchen aber das Risiko der Offenheit. Hinter all den Debatten steht doch die Frage, warum es sich heute lohnt, zu glauben. Die traditionellen Plausibilitäten brechen weg. Wir müssen neu entdecken, wie wir Kirche leben können. Dabei darf es dann nicht um Dominanz-Fragen gehen: Wer bestimmt? Wer sagt, was heraus kommen darf? Und dabei darf ich auch nicht Glauben gegen Reform ausspielen. Bischof Heiner Wilmer hat das auf sehr persönliche Art in der vergangenen Woche beschrieben.

Jetzt öffentlich Geschütze gegeneinander zu richten, bringt niemandem etwas. Viel mehr ist Knotenlösen gefragt, Geduld, Offenheit. Das ist und bleibt anstrengend. Ein fertiges Muster gibt es nicht. Den Weg müssen wir schon selber gehen. Aber es wird ein wenig einfacher, wenn wir uns zumindest nicht gegenseitig Steine in den Weg legen.

 

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Robust oder nachdenklich

Veröffentlicht am 5. Juni 20208. Juni 2020
Selbstbewusstsein tut der Kirche gut Screenshot BR Sendung vom vergangenen Sonntag

Robuster hätte ich auftreten sollen. Nach meiner Einladung am vergangenen Wochenende, beim BR zu Kirche und Corona zu sprechen, habe ich eine ganze Reihe von Rückmeldungen bekommen. Die meisten lassen sich so zusammen fassen: Selbstbewusstsein tut der Kirche gut. Und dieses hätte ich vermissen lassen.

Ob das stimmt, das überlasse ich den Zuschauenden. Ich finde aber wichtig, dass wir über die richtigen Dinge sprechen. Es sind Schwächen sichtbar geworden, die vor der Krise von Gewohnheit oder Tradition noch nicht sichtbar waren. Dass sich Kirche wandelt, ist ja nicht neu. Seit Jahrzehnten sprechen Pastoraltheologen und Soziologen davon, dass es einen Traditionsabbruch gibt, dass wir weniger werden, dass die Bedeutung institutionalisierter Religion in der Gesellschaft abnimmt.

Selbstbewusstsein tut der Kirche gut. Wirklich?

Meine Reaktion darauf ist, das ernst zu nehmen. Natürlich gibt es nach wie vor starke Kirchen, lebendige Gemeinden, christlichen Einsatz. Das will ich gar nicht klein reden. Nur zeigt uns der Blick aufs Ganze einen anderen Horizont. Was ich ja auch nicht zum ersten Mal so sage.

Mein Anliegen – und das war dann auch der Tenor meiner Antworten auf einige der Emails – ist es, die Signale nicht untergehen zu lassen. Wir können lernen. Was für eine Gestalt Kirche in 20 oder 30 Jahren haben wird, kann ich auch nicht sagen. Aber ein reines Festhalten an dem, was war, wird uns nicht weiter bringen.

Was uns in Zukunft trägt

Die Energie und der gelebte Glaube können uns weiter tragen, einzeln und als Gemeinschaft, wenn wir die Realität ernst nehmen. Das ist mein Anliegen. Das ist sicherlich eher auf der nachdenklichen denn auf der robusten Seite. Aber ich finde es wichtig.

Was meinen Sie? Was sind die Dinge, die uns in die Zukunft tragen?

 

P.S. Der Beitrag ist leider nicht mehr in der Mediathek zu sehen. Stand: 8. Juni.

 

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„In diesen Zeiten“

Veröffentlicht am 21. April 202021. April 2020
Ressource Solidarität Raus aus der Isolation: und wohin geht es jetzt? Bild: Rolltreppe U-Bahn Leipzig

Je mehr wir auf uns selbst beschränkt sind, je weniger Kontakt wir miteinander haben, desto stärker zeigt sich Solidarität. Alle machen mit, auch wenn wir alleine oder nur in Familie sind. Ein scheinbarer Widerspruch, aber auch nur ein scheinbarer. Wir leben „in diesen Zeiten“ von der Ressource Solidarität und es hilft. Das eigene Zurückhalten, das nicht Bestehen auf eigenen Rechten auf Kosten vielleicht der Gesundheit anderer, die Selbstbeschränkung oder der Einkauf für die Nachbarn, in all dem drückt sich diese Ressource aus.

Mich hat das ehrlich gesagt erstaunt. Ich hätte mir mehr Durcheinander erwartet, dass trotz all der Einschränkungen und der Ungewissheit der Zukunft, für viele vor allem der beruflichen Zukunft, so lange und so selbstverständlich Solidarität geübt wird, zeigt gesellschaftliche Reife.

Ressource Solidarität

Erstaunt hat es mich wohl vor allem deshalb, weil der Trend in eine andere Richtung ging: die Trennung, das Wahrnehmen des Anderen und Fremden als Gefahr, der Rückzug in ein vermeintlich ‚Nationales‘ wurde stark. Solidarität sei ein Schimpfwort geworden, hatte Papst Franziskus das genannt.

Hat sich in der Krise nun das Gegenteil gezeigt? Ja und Nein. Ja, weil es eben viel Solidarität gibt. Aber diese Solidarität ist eine begrenzte, sozusagen eine geschützte Solidarität. Die damit verbundene Selbstlosigkeit sei verbunden mit der fest erwarteten Befristung des Zustandes, analysiert John Schellnhuber (Potsdam-Institut für Klimaforschung).

Die erwartete Befristung

Wenn es um die nächste Krise ginge, die Klima-Krise, sei es schon schwieriger mit der Ressource Solidarität, schreibt er. Da gibt es nämlich keine Befristung und Begrenzung, nicht zeitlich, nicht räumlich. Da geht es um kommende Generationen und um Menschen, die weit weg und außerhalb des Sichtfeldes leben. Hier würde sich zeigen, ob wir aus der jetzt geübten Solidarität gelernt hätten oder zurück fielen in die alten Muster des kurzfristigen und kurzsichtigen Gewinns.

Aber das gibt es ja auch heute schon: die Krankenhäuser sind auch wegen der Disziplin vieler Menschen hier bei uns nicht überfordert. Aber es dauerte grausam lange, um 50 unbegleitete junge Menschen aus einem völlig überfüllten Flüchtlingslager zu holen. 50 von 40.000 Menschen! Die Solidarität ist begrenzt, weil sie Nachbarn und noch einigermaßen verstehbare Größenordnungen von Menschen umfasst. Rio de Janeiro? Ostafrika? Dehli? Kairo? Dorthin schicken wir keine der hier nicht gebrauchten Betten, sozusagen.

Für den eigenen Staat ist das normal, dessen Verantwortlichkeiten sind klar umschrieben. Aber schon bei der EU hört es auf, wie wir in den vergangenen Wochen auch erleben mussten.

Schon bei der EU hört es auf

Zurück zur Solidaritäts-Frage: Solidarität bedeutet schlicht sich etwas, was nicht das eigene Problem ist, zu Eigen zu machen. Das Andere also, das mir gegenüber tritt, wird durch Solidarität seines Charakters als „anders“ nicht beraubt, aber anstatt gefährlich zu sein, tritt Hilfe oder Akzeptanz oder was auch immer dazu. Auf jeden Fall etwas Positives. Solidarität ist der Widerstand gegen alle Trennungen, gegen all diese Versuche, das Eigene auf Kosten des Anderen zu schützen. In diesem Sinne betont es der Papst ja auch immer wieder.

Konkret kann das Beschränkung bedeuten. Wobei die zum Beispiel in Sachen Klima nur kurzfristig wären, wie Schellnhuber in dem bereits zitierten Artikel sagt. Aber uns fällt es schwer, das zu glauben. Er nennt es ein „beispielloses zivilisatorisches Meisterstück“, was möglich wäre, wenn wir diese „beharrliche Empathie über Jahrzehnte hinweg“ leisten. Wobei das nicht nur menschlich wäre, sondern auch zutiefst christlich.

Beharrliche Empathie über Jahrzehnte

Viele wollen das nicht wagen. Trotz all der Solidarität, die wir – in ihrer räumlichen und zeitlichen – Perspektive im Augenblick erleben. Strategien gegen Solidarität gibt es viele.

Hier im Blog begegnen mir zum Beispiel immer wieder versuche der De-Legitimation. Vieles davon können Sie gar nicht lesen, das hat in einer von mir moderierten Debatte nichts zu suchen, aber mir selber fällt es auf, wie die Kompetenz derjenigen unterlaufen wird, die mit wissenschaftlichen Methoden Wirklichkeit verstehbar machen wollen. Da gleichen sich die Muster: „Das-ist-Meins“ wird mit Händen und Klauen verteidigt, gegen jede wahrgenommene Zumutung, die als ungerechtfertigter Anspruch formuliert wird.

Deswegen ist die Solidarität „in diesen Zeiten“ nur ein kleiner Schritt, eben weil sie begrenzt ist. Wir vertrauen dem Kontrollierbaren, dem Regierbaren. Aber all den Flüchtlingen auf der Welt, denen eben auch das Virus droht und die nicht mal ein Mindestmaß an Schutz haben, denen gilt sie nicht in gleichem Maße.

Solidaritäts-Projekte

In seiner Osteransprache hat der Papst auf das Solidaritäts-Projekt Europa verwiesen. Wo er aber eine Herausforderung sieht, also eine grundsätzlich offene Frage, ist Kardinal Jean-Claude Hollerich, Vorsitzender der Bischöfe in der EU, schon skeptischer: „Wir sehen die Schwierigkeiten europäischer Solidarität“, schreibt er in einem Artikel. Das würde zu einer Ernüchterung gegenüber dem Projekt Europa führen.

Zwei mögliche Wege: Herausforderung und Lernen aus der Solidarität für die nächsten Schritte, oder eben ein Einschränken. Betone ich die Selbstlosigkeit, oder betone ich die Beschränkungen, unter denen ich bereit bin, selbstlos zu sein?

Das wird die Zukunftsfrage sein, wenn es darum geht, Antworten auf all die anderen Fragen zu finden, die uns in den kommenden Jahren begegnen werden. Wenn „diese Zeiten“ vorbei sind und neue Zeiten neue Fragen an uns stellen.

 

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Ostern vor dem Schirm, aber es ist Ostern!

Veröffentlicht am 12. April 20204. April 2020
Ostern in Distanz Distanz ist dieses Jahr die Grundierung des Osterfestes: Blick auf den Apennin, Zentralitalien

So skurril das klingt: Für mich ist es in diesem Jahr ein Osterfest wie in den vergangenen Jahren auch. Zehn Jahre lang habe ich Ostern – wie auch Weihnachten – nicht am Altar verbracht, sondern in der Übertragungskabine. Vor dem Mikrophon. Gründonnerstag, zwei Messen. Karfreitag die ganze Papstliturgie. Ostern die Osternacht und dann der Sonntag mit Urbi et Orbi. Alles aus der Kabine. Ostern in Distanz.

Es waren also zehn Osterfeste vor dem Schirm, nicht direkt beteiligt. Und ich habe mich auch nie beklagt. Das gehörte zu meinem Beruf. Aber gefreut hatte ich mich schon, dass es dieses Jahr anders wird. Anders werden sollte.

Ostern in Distanz

Stattdessen nun wieder der Bildschirm. Zwar ohne Mikrophon, aber die Trennung vom Geschehen bleibt mir erhalten. Ja, ich bin Priester, ich könnte das auch alleine feiern. Und dich im Augenblick wirklich alleine lebe, hieße alleine auch alleine, nicht in Gemeinschaft mit anderen Jesuiten unter Vorsichtsmaßnahmen.

Aber Ostern alleine? Nach langer Überlegung habe ich mich für das Fern-Mitfeiern entschieden. Also wieder Bildschirm-Ostern. Wie in den vergangenen Jahren auch: vom Gründonnerstag bis in die Osternacht.

Bildschirm-Ostern

Dabei geht natürlich was verloren. Ostern ist das Fest der Gemeinschaft und der Begegnung, und das meine ich nicht soziologisch oder liturgisch, sondern theologisch. Wir werden erlöst, nicht nur ein Ich. Und dass die Begegnung mit dem Auferstandenen der Kern der Botschaft sind, ist offensichtlich. Das kommt zu kurz.

Aber wenn diese Dimension zu kurz kommt, dann gibt es vielleicht den Weg frei für anderes. In unserem Fall für Distanz. Nicht nur auf die soziale Distanz, ich meine vielmehr die Distanz des Osterfestes.

Distanz der Erfahrung: Wir wissen ja eigentlich gar nicht, was das war oder ist, eine Auferstehung. Zwischen dieser Wirklichkeit und unserer Erfahrungswelt liegt eine Distanz, die auch nicht zu überbrücken ist.

Distanz zum Auferstandenen: Mit dem Fest Himmelfahrt markieren wir den Moment, der uns von der Erfahrung der Begegnung mit dem Auferstandenen trennt. Die erste Generation war Christus noch begegnet, wir können das so nicht mehr. Da ist Distanz.

Distanz untereinander: Wie wir hier feiern ist zu tiefst kulturell geprägt. Das ist es woanders auch. Die Feier ist dieselbe und der Herr auch, aber kulturelle Einfärbungen prägen das Fest. Da entstehen Distanzen.

Distanz zu Gott, die nur Gott von sich aus überwinden kann und überwunden hat. Oder auch Distanz des Verstehens. In den Worten des Credo von Papst Paul VI.: „Sein und Liebe bezeichnen in unaussprechlicher Weise die gleiche göttliche Wirklichkeit dessen, der sich uns zu erkennen geben wollte und der, da Er „in einem unzugänglichen Lichte wohnt”, in sich selbst jenseits jeglicher Bezeichnung, über allen Dingen steht und alles geschaffene Denken übersteigt. Gott allein kann uns von sich eine angemessene und volle Erkenntnis mitteilen, indem Er sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart.“

Oster-Distanzen

Distanz gehört zum Osterfest dazu, auch wenn diese Dimensionen vielleicht bei der normalen Feier etwas hintenan stehen. Und da wir dieses Jahr nicht so feiern können, wie es richtig und angemessen wäre, ist es vielleicht Gelegenheit, das neu zu entdecken.

In diesem Sinn darf ich Ihnen ein frohes und gesegnetes Osterfest wünschen.

Der Herr ist auferstanden, wahrhaft auferstanden, Halleluja!

 

 

 

Kategorien Allgemein, Die deutschsprachige Kirche, Franziskus, Glaube und Vernunft, Kirche und Medien, Neulich im Internet, Rom, Spiritualität / Geistliches Leben, VatikanSchlagwörter Corona, Feier, Glaube, Krise, Ostern, Radio Vatikan, TV, Übertragung5 Kommentare zu Ostern vor dem Schirm, aber es ist Ostern!

Pfingsten ist das neue Ostern

Veröffentlicht am 5. April 20202. April 2020
Der Kern des christlichen Lebens fällt aus Eine Perspektive braucht es für das christliche Feiern. Kümmern wir uns jetzt drum!

Aus Ostern wird in diesem Jahr wohl nichts. Jedenfalls nicht als kirchliche Feier, als Karfreitagsgottesdienst und Osternacht. Von Gründonnerstag und Fußwaschung mal ganz zu schweigen. Der Kern des christlichen Lebens fällt aus, Tod und Auferstehung müssen in diesem Jahr halb privat gefeiert werden.

Deswegen wird es Zeit, darüber hinaus zu denken. Ohne dass wir wissen und wissen können, was nach der Krise passieren wird und wann sie zu Ende geht, braucht es eine Perspektive. Und diese Perspektive heißt Pfingsten.

Der Kern des christlichen Lebens fällt aus

Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir Pfingsten feiern wollen. Immer unter der Wolke, dass die Krise bis dahin noch nicht zu Ende ist. Aber wir haben ja jetzt Zeit, uns etwas zu überlegen. Gründe dafür gäbe es genug.

  • Pfingsten ist der Abschluss der Osterzeit, gehört zu Ostern hinzu.
  • Pfingsten ist als Heilig-Geist-Fest das Fest des Beistandes, der uns nie verlässt
  • Pfingsten ist der Auftrag Gottes an uns, unser Gedenken daran, dass die Kirche nicht unsere eigene Veranstaltung ist, sondern Gottes Wille und Werk
  • Pfingsten sagt, dass wir niemals losgelöst von Gott handeln, sozusagen als Gottes Gegenüber.

Die Theologinnen und Theologen hier mögen da gerne noch etwas hinzu fügen.

Pfingst-Ostern

Nun geht der Spruch unter Predigern, man kann gar nicht über das Pfingstfest predigen ohne mindestens eine Häresie zu begehen. Soll heißen: einfach zu verstehen ist die Sache mit dem Heiligen Geist und uns nicht. Und ins Wort zu heben schon gleich gar nicht.

Auch hieraus folgt: Habt Ideen! All die liturgischen Institute und Pastoraltheologinnen und -theologen, all ihr Praktiker und Kreativen, Mönche und Schwestern, geistliche Bewegungen: habt Ideen. Lasst uns Pfingsten feiern und damit den Zuspruch Gottes und den Beistand Gottes, lasst es uns kreativ tun, offen für die Hoffnung.

Offen für die Hoffnung

Bisher sind die Klagen groß, Kirche reagiere bloß, vollziehe nur staatliche und gesellschaftliche Vorgaben und stelle das Eigene, das Liturgische, hintenan. Es wird Zeit, eine Antwort zu finden. Eine Antwort aus Heiligem Geist. Eine pfingstliche.

Kategorien Allgemein, Die deutschsprachige Kirche, Glaube und Vernunft, Spiritualität / Geistliches LebenSchlagwörter Corona, Feier, Krise, Liturgie, Ostern, Pfingsten81 Kommentare zu Pfingsten ist das neue Ostern

Aus Wissenschaft wird Politik

Veröffentlicht am 30. März 202029. März 2020
aus dem Sein folgt noch kein Sollen Debatten in Zeiten von Corona: Fenster in einem römischen Innenhof (Archiv)

In der Philosophie nennt man es einen ‚naturalistischen Fehlschluss‘: Aus der Bewertung als ‚gut‘ wird ein ‚muss‘ abgeleitet, also ein Sollen. Das Problem: aus dem Sein folgt noch kein Sollen. Dafür brauche ich einen Schritt mehr, ein Sollen kann sich nur aus einem anderen Sollen ergeben. Wenn der Schritt nicht gemacht wird, ist es eben ein Fehlschluss.

Weswegen ich das hier anbringe: Nicht aus dem Virus ergeben sich die vielen Maßnahmen, die uns derzeit belasten. Sondern aus dem Mandat, Menschenleben zu schützen und zu retten. Letzteres ist das Sollen. Klingt erst mal banal, hat aber wichtige Auswirkungen.

Aus dem Sein folgt noch kein Sollen

Bei der vielen Berichterstattung zu den Maßnahmen zum Corona-Virus ist mir vor einigen Tagen ein Philosoph untergekommen. Der wies auf eine Merkwürdigkeit des Politischen in diesen Tagen hin.

Zum einen würden die Experten den Rahmen des zu Tuenden definieren. Statistiken, vorsichtige Projektionen was noch passieren könnte, Ansteckungsmöglichkeiten, all das wird von Politik derzeit in Maßnahmen umgesetzt.

So schlimm und einschneidend das ist, es klingt selbstverständlich. Es gibt kluge und zurückhaltende Zweifel, es gibt rechtsstaatliche Debatten, aber keinen Widerstand gegen die Maßnahmen, weil die halt angesagt sind. Die Experten warnen und definieren, was gemacht werden muss. Und die Politik handelt.

Prinzipien bestimmen, nicht Wissenschaft

Was getan werden soll, ergibt sich aber nicht aus naturwissenschaftlichen Tatsachen, so der Philosoph Markus Gabriel. Sondern aus – meine Worte – politischen Prinzipien. Erst die Entscheidung, Menschen zu schützen, gibt der Politik das Mandat so oder eben anders zu reagieren.

Der Philosoph fragt: Warum gilt aber das gleiche nicht in anderen, ebenfalls massiven Krisen? Dieser Frage schließe ich mich an.

Politik reagiert hart und klar und tut alles, um eine Katastrophe zu vermeiden. Da mache ich mit, auch ich will das vermeiden. Ich will aber auch anderes vermeiden, zum Beispiel den massiven und uns gefährdenden Klimawandel.

Und die anderen Krisen?

Auch hier gibt es klare wissenschaftliche Modelle und Prognosen, wie beim Virus. Aber hier erlauben sich einige Politiker, das zu ignorieren oder gegen andere Prinzipien – Autoindustrie in Deutschland schafft Arbeitsplätze – abzuwägen. Hier richtet man sich dezidiert nicht nach naturwissenschaftlichen Einsichten und Modellen.

Oder besser: man richtet sich nach wirtschaftswissenschaftlichen Modellen, nicht nach der Klimaforschung.

Ich würde mich freuen, wenn wir in der Debatte diese Dimension nicht vergessen. In der augenblicklichen Krise traue ich der Politik zu, die richtigen Abwägungen zu treffen. Zwischen Kontaktverbot und Notwendigkeit zur Versorgung. Zwischen wirtschaftlicher Abschottung und damit Not und der Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems.

Vertrauenssache

In der anderen Krise, der Krimakrise, habe ich das Vertrauen allerdings nicht. Zu laut rufen seit Jahren die Experten mit ihrer naturwissenschaftlichen Expertise, zu langsam gibt es da Fortschritt.

Die politischen Prinzipien bleiben, und das ist gut so. Nur müssten sie auch mal auf andere naturwissenschaftliche Erkenntnisse angewendet werden. Die nächste massive Krise steht bereits an, und die wird sich nicht mit zu-Hause-Bleiben lösen lassen.

 

Kategorien Allgemein, Glaube und Gerechtigkeit, Glaube und Vernunft, Neulich im InternetSchlagwörter Corona, Ethik, Klimakrise, Krise, Philosophie, Politik49 Kommentare zu Aus Wissenschaft wird Politik

Der Weg zur Solidarität

Veröffentlicht am 27. März 202027. März 2020
In welcher Welt wollen wir leben Nicht nur hier entscheidet sich die Zukunft, sondern auch bei uns zu Hause: Das Parlament in Berlin

Was jetzt in der Not beschlossen ist, das wird auch nach der Krise weiter wirken. Und das nicht nur positiv. So lautet die Warnung, welche der Historiker Yuval Noah Harari am vergangenen Sonntag über die Financial Times äußerte. Sofort übersetzt in der NZZ als „Totalitarismus bekämpfen und Bürgersinn stärken“. In welcher Welt wollen wir leben, wenn die Krise vorbei ist?

Harari ist nicht der einzige, der darüber nachdenkt, auch öffentlich gibt es viele Stimmen. Und das ist gut so, das Denken sollten wir nicht einschränken.

In welcher Welt wollen wir leben?

In welcher Welt wollen wir leben, wenn die Drucksituation der „Großschadenssituation“ vorbei ist?

Krisen „spulen historische Prozesse im Schnellgang vorwärts“, sagt Harari. Und er warnt. Vor dem alles überwachenden und immer modernere Mittel nutzenden Überwachungsstaat und vor isolierenden und abgrenzenden Nationalismen.

Das schöne daran: Wenn man die beiden Entscheide, so wie er sie beschreibt, genau ansieht, dann berühren sich die jeweils positiven Dinge: Solidarität und Ermächtigung der Bürger.

Solidarität und Ermächtigung der Bürger

Die Überwachung durch Staat und vor allem von Firmen diskutieren wir seit Jahren, jetzt sind wir aber nicht nur dagegen, sondern nennen auch die Alternative.

„Wenn die Bürger die wissenschaftlichen Fakten kennen und wenn sie den Regierungen glauben, dass sie ihnen diese Fakten offenlegen, dann tun sie das Richtige, ohne dass ihnen Big Brother über die Schulter schauen müsste. Eine eigenverantwortliche, aufgeklärte Bevölkerung bringt gewöhnlich viel mehr zustande als eine unwissende und gegängelte“, sagt Harari.

Was natürlich Vertrauen voraus setzt, ein Vertrauen, dass die großen Zertrümmerer in der Politik wie Trump und dergleichen fleißig zerstört haben.

Einsicht, nicht Zwang

Gerade habe ich ein wunderbares Buch über den menschlichen Körper gelesen, und der Autor macht denselben Punkt wie Harari: die einflussreichste Erfindung für die Gesundheit der Menschen war der Gebrauch von Seife. Also: Hygiene. Und das hat sich durch Einsicht und nicht durch Zwang durchgesetzt.

Ich schließe mich dem Plädoyer für informierte und verantwortete Entscheidungen an. Maßnahmen sind Maßnahmen, und sie waren in den gegebenen Umständen wohl auch nötig. Nur langfristig hilft das nicht, sondern nur Verantwortung.

Verantwortung hilft, nicht Zwang

Dass es dazu ökonomische Hilfe braucht, ist selbstverständlich, alleine können Familien das nicht tragen. Und damit sind wir beim zweiten Punkt: Solidarität. Was im Kleinen gilt, also die gesellschaftliche Hilfe von Menschen, welche diese brauchen, muss auch im Großen gelten. Sich nur um die eigene Gruppe oder Familie – Stichwort Hamsterkäufe – oder nur das eigene Land – „make it great again“ – zu kümmern, zerstört die Grundlage dessen, was uns gemeinsam stark macht.

Solidarität ist nicht wirklich hoch im Kurs, unsere Wirtschaft baut auf andere Prinzipien, was nicht zuletzt auch der Papst sehr deutlich beklagt hat. Ein Wiederentdeckung und ein Stärken dieser Solidarität ist angesagt. Im Kleinen sehen wir das dauernd: Nachbarschaftshilfe, Respekt durch Distanz, Hilfen zwischen Städten, Krankenhäusern, Ländern.

Solidarität wieder entdecken

Artikel wie der von Harari können uns beim Denken helfen. Auch wenn sie etwas zu sehr dramatisieren. Aber das ist für einen prophetisch gemeinten Artikel ist das ok. „Wenn wir uns aber für die globale Solidarität entscheiden, trägt uns das nicht nur den Sieg gegen das Virus ein, sondern gegen alle Epidemien und Krisen, die die Menschheit im 21. Jahrhundert treffen können.“

Klingt fein, oder? Aber wenn wir auf das große Versagen der Solidarität schauen, auf die Grenze von Türkei und Griechenland, auf Syrien, auf das Horn von Afrika, dann sehen wir, was für einen Weg wir da noch vor uns haben.

 

Kategorien Allgemein, Glaube und Vernunft, Kirche und Medien, Neulich im InternetSchlagwörter Corona, Gesellschaft, Harari, Krise, Solidarität, Virus17 Kommentare zu Der Weg zur Solidarität

Leere Kirchen, öffentlicher Glaube: Wie soll das gehen?

Veröffentlicht am 24. März 202024. März 2020
Zeit der Reflexion Die Messfeier hängt in der Luft ...

Die Bundeskanzlerin hatte uns vergessen. In ihrer vielkommentierten Ansprache zur Verantwortung aller in Zeiten von Corona kamen Kirchen und Glauben nicht vor. Was wiederum auch bemerkt wurde. Wir sind nicht mehr selbstverständlich Teil von allem. Auch das Verbot von Gottesdiensten – da wurden Kirchen berücksichtigt – ist ohne vorherige Absprachen abgelaufen. Auch hier: wir sind nicht mehr selbstverständlich Teil von allem. Es ist Zeit der Reflexion, die Umstände tragen sie uns auf.

Zeit der Reflexion

Wir erleben gerade so etwas wie eine „Entkirchlichung auf Probe“. All das, was uns die Religionssoziologen voraus sagen, das haben wir gerade in einer Art Stresstest vor Augen. Leere Kirchen, die Frage nach der Wichtigkeit von Eucharistie, die Frage nach tragenden Formen des Glaubens über das Traditionelle hinaus. Denn das gibt es ja gerade nicht.

Da gilt es sensibel auf all da zu achten, was sich jetzt zeigt. Zugegeben, die Sorgen gehen in eine andere Richtung, und das auch zu recht, aber der erzwungene Stillstand der normalen gesellschaftlichen Vorgänge gibt uns neue Denkräume. Nutzen wir sie.

Einige Reflexionen, wie ich sie sehe:

Erstens: Glaube ist öffentlich

Es ist das Offensichtlichste: keine Messe in den Kirchen. Die theologische Debatte um die „private“ Messen und um liturgische Theologie, wie sie im Augenblick stattfindet, weist darauf hin, was da alles auf dem Spiel steht. Kurz: Einige Liturgen halten die virtuell-öffentliche Feier von „privaten“, also nur vom Priester gefeierten, Messen für einen Schritt hinter das Konzil. Die Messe sei nicht das Eigentum des Priesters, Träger sei die Gemeinschaft der Gläubigen.

Die Gegenmeinung: „virtuell“ ist noch nicht die Glaswand, welche Klerus von Glaubenden trennt, hier entstehe eine neue Form, die noch genau betrachtet werden muss. Außerdem sei das nicht die Normalsituation.

Normal ist das nicht

Dahinter vermute ich die Frage, wo genau eigentlich die Gefahr liegt. Die Warnung davor, aus der Messe eine Frömmigkeitsübung des Priesters zu machen, halte ich für richtig. Nur trifft sie meine ich nicht in diesem Fall. Gleichzeitig ist ‚virtuell‘ eben nicht dasselbe wie ‚real‘. Die Gefahr eines zurück hinter das Konzil ist eine ständige Sorge, und nicht zu unrecht. Aber die wirkliche Gefahr liegt woanders: was bleibt überhaupt übrig von der Messe, wenn es sie mal für einige Wochen nicht gibt?

Glaube will öffentlich und gemeinsam gelebt werden. Wenn das nicht so wäre, dann würde uns die Corona-Krise ja auch gar nicht als Christinnen und Christen treffen. Das Zurückdrängen ins Private erleben wir gerade nicht als Versuchung unter dem Anschein einer angeblichen Moderne, sondern als Gefahr für den Kern des Christlichen: das Öffentliche.

Zweitens: Glaube lässt sich nicht einfach auf neue Formen übertragen

Die Frage nach der Messe weitet sich, wenn wir überhaupt auf Rituale und Formen des gelebten Christlichen schauen: In meinem vergangenen Post hier hatte ich ja einige Formen gelebten Glaubens erwähnt und wer sich durchs Netz klickt, wird noch viele mehr finden. Nur dürfen wir nicht übersehen, dass der Ersatz einer Form – etwa der Versammlung durch eine Internet-Übertragung – etwas bewirkt. Das ist nicht neutral.

Das ist so wie alle Entwicklungen: da gibt es Konstruktives, was mit unserem Leben heute mehr oder besser in Kommunikation steht. Und da gibt es Destruktives, was tragende Formen und Strukturen in Trümmer legt. Es braucht feine Antennen, das eine zu pflegen und das andere nicht stark werden zu lassen.

Drittens: Glaube ist Heimat

Ein belastetes Wort, zugegeben. Aber all das Reden über den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ seit den 90er Jahren hat uns ja gezeigt, dass wir eben nicht nur homo oeconomicus sind, sondern auch emotionale Wesen. Die eine Heimat haben, oder sogar ‚Heimaten‘, wenn mir dieser merkwürdige Plural erlaubt ist.

Das ist mehr als nur Gewohnheit. Da liegen Selbstverständlichkeiten, die uns prägen, die zu uns gehören, die eben auch unseren Glauben grundieren. Und wenn das weg bricht wie im Augenblick, dann ist da ein emotionaler Schaden. Den dürfen wir nicht klein reden.

Das sind auch nicht nur einige meistens ältere Menschen, die sich den angeblich modernen Zeiten nicht anpassen können. Wenn wir aufmerksam in uns hinein horchen, dann gibt es das auch bei uns. Und wenn nicht, halte ich das für ein wichtiges Signal: hier ist etwas weg.

Zeit der Reflexion: Work in progress

Natürlich ist es noch viel zu früh, jetzt irgendwie Schlüsse zu ziehen. Aber über unsere Blickrichtungen können wir uns schon unterhalten. Die Debatten im Augenblick sind gut. Sie sind anders als das, was uns die Zukunfts-Kenner prophezeit haben, allein das schon ist bemerkenswert. Auch die zentralen Problemfelder sind andere: Messfeier, Virtualität vs. Realität, Zugehörigkeit und Heimat.

Die Krise zwingt uns Zeit auf, Zeit die wir vielleicht sonst gar nicht hätten. Nutzen wir sie auch dafür, genau hin zu schauen und für die Zukunft zu lernen.

 

Kategorien Allgemein, Benedikt XVI., Die deutschsprachige Kirche, Franziskus, Glaube und Vernunft, Spiritualität / Geistliches Leben, Sprechen von GottSchlagwörter Corona, Glaube, Gottesdienst, Kirche, Krise, Liturgie, Messe, Virus103 Kommentare zu Leere Kirchen, öffentlicher Glaube: Wie soll das gehen?

Autoritätendämmerung

Veröffentlicht am 16. Januar 20208. Januar 2020
eine glaubwürdige Autorität der Kirche Risse und Brüche in der Kirche: l'Aquila nach dem Erdbeben

Er war einer der bekanntesten Bischöfe der USA, Fulton Sheen. Eine eigene Fernsehsendung hatte er, er konnte Menschen für den Glauben begeistern. Sogar den Emmy hatte er für seine Sendung bekommen. Ein moderner Verkünder also, eine glaubwürdige Autorität der Kirche. Der Seligsprechungsprozess lief ebenfalls glatt, bis er urplötzlich auf eine Klippe lief: drei Wochen vor dem Termin wurde die Seligsprechung abgesagt. Der Vatikan hatte noch einmal gebremst. Die Begründung: “In our current climate it is important for the faithful to know that there has never been, nor is there now, any allegation against Sheen involving the abuse of a minor.” Vorsicht, Missbrauch!

Auch in Deutschland erleben wir das gerade, wenn auch nicht gleich bei Seligsprechungen. Bei immer mehr Bischöfen der älteren und emeritierten Generation erscheint das Fragezeichen, was sie denn getan hätten. In den USA ist das besonders deutlich, weil da alles an die Öffentlichkeit kommt, mit Klarnamen und allem drum und dran. Bei uns wäre das gar nicht erlaubt.

Eine glaubwürdige Autorität der Kirche

Wir sind zu recht vorsichtig geworden. Eine glaubwürdige Autorität der Kirche gibt es fast nur noch mit Vorbehalt. Nicht nur aber gerade bei Bischöfen kommt das nun immer wieder auf die Tagesordnung, obwohl nicht nur die weggeschaut haben.

Wir müssen also über Autorität reden. Die kann nicht so bleiben, wie sie ist, sie ist beschädigt. Ihre Legitimierung wird nicht mehr ohne weiteres akzeptiert, nach all den Geschichten über falsch und missbräuchlich ausgeübte Autorität. Papst Franziskus führt die Debatte um die Autorität in der Kirche gerne mit dem Begriff des Klerikalismus. Und er zieht eine eindeutige Verbindung zwischen dieser Form von falscher Autorität und dem Missbrauch bzw. der Vertuschung.

Formen falscher Autorität

Nun muss man vorsichtig sein, die Kritik am „-ismus“ ist wichtig, wenn sie aber als Schutzschild fungiert und damit Selbstkritik ausschließt, hilft sie nicht weiter. Im Gegenteil. Deswegen ist es so wichtig, neue Formen von Autorität in der Kirche einzuführen, Gewaltenteilung etwa.

Es bleibt leider der Verdacht, dass einige Autoritätsinhaber bei allen Debatten nur Zugeständnisse machen und so Herren des Verfahrens bleiben wollen. Das kann nicht sein. Ein wenig ändern, damit dann doch alles bleibt wie es ist, das kann nicht das Ziel sein.

Autorität steht unter Vorbehalt. Das können wir nicht weg blenden und auf alten Legitimität pochen. Zeit, sich vielleicht einige Bibelzitate zum Thema vorzunehmen:

„Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.“ (Mt 23).

Und dann fügt Jesus an: Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Wenn das in der Umsetzung mehr sein soll als Prosa, dann müssen wir den Bibeltext noch einmal genau ansehen.

 

Kategorien Allgemein, Die deutschsprachige Kirche, Franziskus, Glaube und Vernunft, Kirche und Medien, ÖkumeneSchlagwörter Autorität, Bischof, Kirche, Krise, Missbrauch, Papst Franziskus, Zukunft11 Kommentare zu Autoritätendämmerung

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