Amazonien ist wieder auf den Titelseiten. Aber ist es der brennende Urwald, wie vor acht Monaten? Oder die schreiende Ungerechtigkeit? Die Umweltzerstörung, damit wir hier billiges Fleisch auf dem Tisch haben? Nein, es ist fake. Wir tun so, als ob es um Amazonien ginge, in Wirklichkeit reden wir über unser Lieblingsthema: über uns selbst.
Ein wenig Zorn hat mich vorgestern und gestern gepackt, als ich die Berichterstattung über das jüngste Papstschreiben verfolgt habe. Zugegeben, das war künstlich gepuschtes Interesse, weil auch wir hier eine Reform-Debatte laufen haben, aber gemessen an den Problemen, die in dem Text angesprochen werden, war ich enttäuscht über die Debatte.
Amazonien ist wieder auf den Titelseiten
Die Kirche sei reformunfähig, tönt es nun. Wer auf ein Symbol des Aufbruchs und der Erneuerung gehofft habe, „muss dieser Kirche wohl enttäuscht den Rücken kehren”, meint Maria 2.0 via Facebook beitragen zu sollen.
Ja was haben wir denn erwartet? Dass unter dem Deckmantel Amazoniens unsere eigenen Probleme diskutiert werden? Dass Lösungen dort bittschön an unseren Erwartungen zu messen sei? „Alles, was die Kirche anzubieten hat, muss an jedem Ort der Welt auf eigene Art Fleisch und Blut annehmen“ (QA 6), schreibt der Papst. Das wurde wohl überlesen.
Auf eigene Art an jedem Ort der Welt
Zuerst hatte es nach der Bischofssynode ein Dokument gegeben, das Papst Franziskus jetzt ausdrücklich nicht ersetzt. Dort gibt es bereits einige Themen, an denen man arbeiten kann. Und nun legt der Papst mit seinen eigenen Gedanken nach.
Kardinal Michael Czerny SJ, einer der Macher hinter der Bischofssynode und auch hinter dem jetzt vorgestellten Dokument, fasst diese so zusammen: „Das Entscheidende ist der Ruf des Papstes zu einer Umkehr in der gängigen Denkweise über Reich und Arm, Entwicklung und Bewahrung, Verteidigung der kulturellen Wurzeln und Offenheit für den anderen. Franziskus spricht von vier großen Visionen: Ein Amazonasgebiet, in dem alle die Rechte der Armen und der Indigenen schützen. In dem der kulturelle Reichtum nicht verloren geht. Eine Bewahrung des ökologischen Lebensraums. Und viertens christliche Gemeinschaften, die den Glauben am Amazonas einheimisch machen – eine Kirche mit amazonischem Antlitz.“
Der Papst wolle Horizonte für den Weg angeben, anstatt spezielle Regelungen zu formulieren.
Horizonte, nicht Regeln
Wir haben schon vergessen, dass vor acht Monaten tagelang der brennende Amazonaswald auf den Titelseiten der Zeitungen war. Wir haben uns für gefühlte fünf Minuten Sorgen gemacht, jetzt interessiert sich keiner mehr dafür. Das ist kurzsichtig und schlimm. Der Wald wird immer noch zerstört, die Natur ausgebeutet, etwas mehr Nachhaltigkeit in unserem eigenen Denken darf uns schon zugetraut werden. Da versagt unsere mediale Berichterstattung und versagen auch unsere innerkirchlichen Reflexe.
Wenn man das genauer liest, finden sich interessante christliche Perspektiven. Zum Beispiel die Konkretisierung vielem, was der Papst schon früher betont hat: es gehört schlicht zum Christsein dazu, sich um Umwelt und Armut zu kümmern. Das hat mit Jesus Christus zu tun, da unterscheidet sich Kirche von anderen Organisationen (etwa QA 41).
Wir haben vergessen
Darf man sich damit kritisch auseinander setzen? Aber natürlich. Sollen wir sogar. Nehmen wir das, was Maria 2.0 kritisiert: das Sprechen über das „marianische Charisma der Frauen“. Das sei paternalistisch und damit herablassend, keine Würdigung der Frau und schon gar nicht die selbstbestimmte Teilhabe an Kirche. Diese Kritik kann ich ernst nehmen. Sie kommt aus Erfahrung und ist mehr als das reflexhafte Schauen auf den Zölibat, zu mehr hat es der überwiegende Teil der medialen Berichterstattung ja gar nicht geschafft.
Aber diese Kritik setzt nicht die Gedanken des Papstes außer Kraft. Neben meiner Tastatur liegt ein Buch mit dem Titel „Frauen machen Kirche“. Die dort schreibenden Autorinnen zeigen mir, dass ich zu diesem Thema lieber hören als etwas sagen sollte und zweitens, wie unterschiedlich die Erfahrungen und Perspektiven sind.
Aber genau darum geht es dem Papst ja auch, wenn ich den Text richtig lese.
Erfahrungen und Perspektiven
Der „John-Allen-Einwand“, wie ich ihn nenne, gilt auch hier: warum soll ich der Kirche ihre Aufforderungen zum Wandel glauben, wenn sie selbst sich nicht zu wandeln bereit ist. Aber genau das will doch der Papst. Es geht eben um neue Visionen, orientiert an Christus und seinem Erlösungshandeln. Nur geht es eben nicht um uns.
Was die Berichterstattung und Kommentierung dieses Papsttextes schafft, ist die Aufmerksamkeit wieder einmal von den Schwachen abzulenken, damit wir um uns selber kreisen können. Dabei ist das Entscheidende, was wir lernen können, eben dass wir lernen müssen, wie mir ein Amazonas-Bischof bei meinem Besuch dort vor einem Jahr ins Mikro sagte. Lernen: erst einmal nicht wissen und dann diesen Zustand ändern.
Selbstumkreisungen
Und was gibt es Neues für uns zu lernen aus diesem Schreiben? Eine Sache mag ich nennen: „Auf diese Weise können Zeugnisse einer für das Amazonasgebiet charakteristischen Heiligkeit entstehen, die keine Kopien von Modellen anderer Orte sind“ (QA 77). Kulturell-geographische Unterschiedlichkeit selbst bei einem theologischen Konzept wie Heiligkeit: Heiligkeit bedeutet für den Papst ja immer auch Christsein-Heute, sein Sprechen über die Peripherien der Gesellschaft und der Welt betonen das immer wieder.
Es gibt in der Kirche viele Stimmen, die behaupten, Heiligkeit sei aus Büchern und Dogmen und nur daraus ableitbar. Dem widerspricht der Papst – wieder einmal – laut und deutlich. Das ist einer der Horizonte, von denen Kardinal Czerny spricht, eine der Visionen.
Das starren auf unsere eigenen Themen lässt uns diese Horizonte verfehlen. Und noch etwas: „Man muss sich empören, so wie Mose zornig wurde (vgl. Ex 11,8), so wie Jesus zürnte (vgl. Mk 3,5), so wie Gott angesichts der Ungerechtigkeit in Zorn entbrannte (vgl. Am 2,4-8; 5,7-12; Ps 106,40). Es ist nicht gesund, wenn wir uns an das Böse gewöhnen, es tut uns nicht gut, wenn wir zulassen, dass unser soziales Gewissen betäubt wird“ (QA 15). Das Starren auf unsere eigenen Themen betäubt unser Gewissen.
Betäubtes Gewissen
Interessant finde ich auch den deutlichen Hinweis, dass wir über das Priesteramt neu sprechen müssen. Eigentlich genau das, was sich der synodale Weg der Kirche in Deutschland auch vorgenommen hat. Nicht nur auf einige wenige Fragen beschränkt, sondern grundsätzlich. Hier öffnet der Papst einen weiteren Horizont (QA 87). Dahinter steckt eine ganze Welt von Klerikalismus-Kritik und Lob von Basis-Gemeinden mit Leiterinnen und Leitern, deren Autorität nicht an der Weihe hängt.
Und was lernen wir noch? Für uns selbst, hier bei uns? Erstens müssen wir den synodalen Weg hier bei uns schaffen (oder so etwas einrichten, etwa in Österreich), wir dürfen das nicht über Bande spielen und hoffen, dass andere unsere Probleme für uns lösen.
Das wäre nur eine Variation des ansonsten immer wieder angelehnten Autoritätsarguments. Hier tappen wir in die gleiche Zentralismusfalle, die wir so lange kritisiert haben: eine mächtige Institution ist für alles zuständig. Man kann das Konzept von „Kultur“, wie es der Papst benutzt, kritisieren, wichtig ist ihm aber gerade die Unterschiedlichkeit.
Zentralismusfalle
Der Papst zitiert sich hier selber, und zwar Evangelii Gaudium (117): „Aus diesem Grund »verfügt das Christentum, wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können, nicht über ein einziges kulturelles Modell«, und »es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken«.“ (QA 69).
Und zweitens: ich höre immer „Reform“. „Reform“Gruppen, „Reform“Debatte, Kirchenreform. An dieser Stelle sei noch einmal erinnert an den Unterschied zwischen Veränderung und Entwicklung: Papst Franziskus ist entschieden für das zweite. Und dazu gehört das, was in Evangelii Gaudium unschön mit „Neuausrichtung“ übersetzt ist, im Original aber „Bekehrung“ oder „Umkehr“ heißt. Den Armen der Welt schulden wir unsere Umkehr, sagte Johann Baptist Metz. Das ist mehr als eine Frage der Sprache. Es bedeutet, dass wir lernen, unsere eigene Perspektive in Frage stellen zu lassen.
Was uns angeht, das müssen wir bei uns lösen. Und einer Kirche helfen, ihr eigenes Antlitz, ihre eigene Kultur, ihre eigene Liturgie, ihre eigene Organisationsform zu finden. Das möchte ich aus dem jüngsten Papstschreiben mitnehmen. Die Engführung auf die Zölibatsdebatte ist da nur ärgerlich.